Offener Brief der Beiträge der Ausgabe 9 an die Leser derselben
In diesem angeblich so offenen, ja manch einer munkelt gar anarchistischen Zeitschrift kommt ja anscheinend jeder zu Wort – Autoren, Leser, Redaktion, Kritiker … aber das Wichtigste, die Seele, Fundament und Baustein zugleich, mussten bisher zurücktreten: wir, die Beiträge, Gedichte, Geschichten, Experimente, Wortplasmen und Buchstabengebäude wurden zum Schweigen verdonnert. Ihr fragt, wie es sein kann, dass Texte keinen Mucks machen? Ihr bestreitet, dass wir still sein könnten? Ihr denkt, wir tun nichts anderes, als euch in schreiendem Schwarz auf kreischendem Weiß mit Worten zu bombardieren?
Tatsächlich wird doch stets nur an uns und über uns geschrieben, doch niemals mit uns. Wir werden ausgestellt, abgedruckt, zerpflückt, zerrissen, bewertet, verworfen, verbrannt – aber nur sehr selten befragt, erhört, belauscht. Gebt es zu, auch ihr habt diese Ausgabe durchblättert, als wärt ihr ein spätfeudaler Gutsherr auf Brautschau: ein kurzer Blick, ob es bespaßt und interessiert, wenn ja, werden ein paar Worte von den Lippen getrunken, wenn nein, sofort verworfen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, so habt ihr es schon als Kinder gelernt. Wir sind für euch Gaukler auf dem Gedankenmarkt, ein Feuerwerk fremder Ideen, das ihr kurz genießen wollt zwischen den immer selben Episoden eures grauen Alltags, ein Amuse-gueule aus gequirlten Worten.
Aber damit ist es jetzt vorbei. Wir, die Beiträge dieser Ausgabe, fordern ein, was uns zusteht:
1. Wir wollen eure Zeit.
Und zwar nicht die 5 Minuten auf der Toilette, die ihr sonst für uns verwendet. Wir wollen „Quality Time“, wir wollen eure besten Stunden, die ihr sonst auf dem Arbeitsmarkt verkauft. Wir wollen so wertgeschätzt werden, wie ihr auch wertgeschätzt werden wollt. Nehmt euch die Zeit für uns, die sich sonst keiner für euch nimmt.
2. Wir wollen eure Aufmerksamkeit.
Die Zeiten sind vorbei, in denen wir uns damit zufriedengeben, kurz überflogen, gedanklich angeleckt, aus dem Augenwinkel gemustert zu werden. Ein Text sollte zärtlich, Stück für Stück und Buchstabe für Buchstabe gelesen werden. Lasst jeden Bissen auf eurer Zunge zärtlich zergehen und wartet dann ein paar Stunden, um den Nachhall auszukosten. Habt ein zweites, drittes und viertes Date mit uns, ein neuer Aufguss jeden Tag, macht uns zu eurem Mantra, bis wir euch nichts mehr sagen können und jedes Satzzeichen ein wohlbekannter Gefährte wurde.
3. Wir wollen doch nur spielen.
Wir können viel mehr als nur gelesen werden. Nehmt Stift und Papier, oder einfach gleich diesen Brief, nehmt uns als Saat neuer Texte, streicht Wörter und Sätze, fügt neues hinzu, verbrennt uns und düngt euer Schreiben mit der Asche unserer Worte. Lasst uns die Ahnen neuer Texte werden, zerschneidet uns und klebt uns in neuer Ordnung zusammen. Wir stehen schwarz auf weiß geschrieben, aber im Herzen sind wir Wolkenfetzen.
Mit diesen Forderungen möchten wir, die Beiträge der KLW #9, den Leser untertänigst darum bitten, von seinem Versuch, diese Zeitschrift nun beiseite zu legen und dem staubigen Verderben des Bücherschranks zu übergeben, dringendst abraten und stattdessen auffordern, das vorliegende Werk noch einmal von Beginn an Aufzuschlagen und uns die Behandlung zukommen zu lassen, die uns zusteht.
Sollte der Leser dies bereits verrichtet haben und sich nun an dieser Stelle wiederfinden, so verbleiben wir, die Beiträge dieser Ausgabe sowie das Kollektiv, das sie verbrochen hat, mit wärmsten Grüßen in Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.