Ihre Spaziergänge führen Emma und Romy fast jeden Tag genau an diesem Stück Wald entlang – der Abschnitt lässt sich nur schwer umgehen. Normalerweise beschleunigt Emma ihre Schritte hier. Erst wenn sie sicher ist, dass sie die Stelle hinter sich gelassen hat, wird sie wieder langsamer. Aber heute bleibt sie zum ersten Mal stehen und richtet den Blick in den Wald. Warum kann sie nicht sagen.
Romy verschwindet im Unterholz, bevor es Emma gelingt, sie festzuhalten. Emma ist nicht mehr die Jüngste und an manchen Tagen kann sie es kaum mehr mit ihrer Hündin aufnehmen. Eine Weile hört sie nur das Rascheln des trockenen Laubs, das Romy mit ihrer Schnauze durchstöbert. Dann wird es plötzlich still. Und Emma weiß sofort, worauf die Hündin da zwischen Brombeerranken und Farnwedeln gestoßen ist.
Das Blätterdach taucht den schiefen Stein in geheimnisvolles grünes Licht. Emma tritt vom Feldweg zwischen die Schlehen- und Holunderstauden, die den Waldrand säumen. Vogelgezwitscher und das leise Rauschen der Bäume umfangen sie. Und von einem auf den nächsten Schritt fühlt sie sich wie in einer anderen Welt. Romy hat sich hinter dem Stein verschanzt und beobachtet Emma dabei, wie diese sich durchs Dickicht kämpft. Äste greifen nach Emmas Haaren und Dornen verhaken sich in ihrem Wollpullover. Als wollten sie sie zurückhalten. Emma schüttelt sie ab und geht weiter. Sie kann nicht anders. Der Stein zieht sie unaufhörlich zu sich hin.
Als sie schließlich direkt vor ihm steht, erkennt Emma eine einzelne Kornblume, die obenauf liegt. Sie runzelt die Stirn. Doch sie bekommt nicht zu fassen, warum die blaue Blüte sie stutzig macht. Emmas Knie ächzen, als sie in die Hocke geht. Sie wagt es nicht, sich abzustützen. Zu sehr graut ihr vor dem Stein. Davor, ihn unter den Fingern zu spüren. Warm und rau und fast lebendig. Als sie endlich am Boden kauert, ragt er wie ein dunkler Turm vor ihr in die Höhe. Die Inschrift ist kaum mehr lesbar. Sie hebt ihre Hand, um ein paar Grashalme zur Seite zu streifen. Doch ihre Finger zittern so sehr, dass sie sie schnell wieder sinken lässt. Emma kennt sie ohnehin. Die Worte, die an Ludwigs Tod erinnern.
Emma weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Es passierte an einem Samstag Ende Oktober. Die Sonne stand tief am Himmel und ein eisiger Nordwind pfiff durch die Bäume. Er kündigte den ersten Schnee des Jahres an.
Die Männer machten Holz. Sie arbeiteten schon seit den frühen Morgenstunden in dem Waldstück direkt hinter dem Dorf. Um die Mittagszeit packte Emma ihren Fahrradkorb. So wie jeden Samstag um diese Jahreszeit. Als sie den Waldrand erreicht hatte, lehnte sie ihr Rad an einen Baumstamm und ging die letzten Meter zu Fuß. Es war nicht besonders weit. Ludwig war der Erste, auf den Emma an diesem Tag traf. Er war gerade dabei, einen frisch gefällten Baum zu entasten. Als er sie kommen hörte, schaute er auf. »Grüß dich, Emma«, sagte er und lächelte. »Gut, dass du da bist. Ich habe einen Mordshunger.« Das Geäst über ihren Köpfen ächzte im Wind.
Hannes war mit dem Rest der Männer ein Stück weiter waldeinwärts beschäftigt. Sie bemerkten Emma erst, als sie schrie. Die Männer kamen angerannt. Sie fanden Ludwig genau an der Stelle, an der er eben noch gearbeitet hatte. Er blickte mit leeren Augen in den bleigrauen Himmel. Neben ihm lag ein blutverschmierter Ast.
Der Todesfall war tragisch, aber alles andere als außergewöhnlich. Immer wieder kamen Männer bei Arbeiten in den Wäldern durch umstürzende Bäume oder herabfallende Äste ums Leben.
Doch Ludwigs Tod erschütterte die Dorfgemeinschaft mehr als jedes vorherige Unglück dieser Art. An seiner Beerdigung nahmen mehr Menschen teil, als der kleine Kirchhof fassen konnte. Monatelang war sein Grab ein Meer aus Blumen und Kerzen. Als sich sein Tod zum ersten Mal jährte, stellten Hannes und die anderen Männer einen Gedenkstein am Unglücksort auf. Es dauerte lange, bis es endlich ruhig um Ludwig wurde.
Das leise Knacken eines Zweigs lässt Emma aufhorchen. Sie schaut sich um. Durch die Sträucher hindurch sieht sie einen jungen Mann mitten auf dem Feldweg. Er hat ein ausgeblichenes Baumwollhemd an und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Emma fällt sein altmodischer Seitenscheitel auf. Es ist die gleiche Frisur, die auch Hannes seit seiner Jugend trägt. Dann richtet er den Blick in den Wald. Und obwohl er Emma im dichten Gebüsch unmöglich sehen kann, treffen sich ihre Augen. In diesem Moment weiß Emma, sie hätte nicht stehen bleiben dürfen. Sie hätte an diesem Ort vorbeigehen müssen. So, wie sie es schon seit Jahrzehnten tut.
Emma hat es plötzlich eilig, auf den sonnenbeschienenen Weg zurückzukehren. Sie rappelt sich hoch und das Blut sackt ihr in die Beine. Für den Bruchteil einer Sekunde wird ihr schwarz vor Augen. Dann packt sie Romy am Halsband. Die Hündin lässt sich bereitwillig hinter dem Stein hervorzerren und folgt Emma auf die unbefestigte Straße. Dort dreht sie sich einmal um die eigene Achse und lässt sich schließlich an Emmas Seite nieder. Emma tätschelt ihren Kopf. Ihr kurzes, graues Fell ist mit Kletten übersät.
Nur wenige Schritte trennen Emma und den Mann jetzt noch voneinander. Auf seinen Lippen liegt ein versonnenes Lächeln. Als wolle er lediglich ein wenig über das milde Herbstwetter plaudern. Es ist ein warmes Lächeln. Es ist ein Lächeln, das einem das Gefühl gibt, der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein. Ein Lächeln, dem auf die Dauer niemand widerstehen kann. Auch Hannes nicht. Als Hannes diesem Lächeln nachgab, waren er und Emma schon fast zehn Jahre verheiratet gewesen.
»Schöner Hund«, sagt der Mann. Seine Worte rauschen in Emmas Ohren. Sie schüttelt den Kopf. Sein bloßer Anblick ist nichts gegen diese Stimme. Es ist seine Stimme, die sie kaum erträgt. Dieser Klang, den es außerhalb ihrer Erinnerung nicht mehr geben dürfte.
»Du bist nicht echt«, sagt Emma. Er löst den Blick von Romy und sieht sie an. »Wie kann ich nicht echt sein, wenn ich doch hier stehe?«, fragt er. Winzige Fältchen umrahmen seine dunklen Augen. Es sind große Augen mit dichten Wimpern. Augen, die aussehen, als wären sie nicht ganz hinterhergekommen als der restliche Körper erwachsen wurde. Es sind die Augen, die Emma als Erstes vor sich sieht, wenn sie aufwacht, und als Letztes bevor sie einschläft. Sie verfolgen sie bis in ihre Träume. Und immer öfter auch bis weit in den Tag hinein.
Emma schließt für einen Moment die Augen. »Lass mich in Frieden.« Als sie sie wieder öffnet, ist sein Lächeln verblasst.
Er macht einen Schritt auf sie zu. »Du bist doch die, die mich nicht in Frieden lässt«, sagt er. »Du bist die, die Tag für Tag hierher zurückkehrt. Tag für Tag an den Ort, an dem es geschah. Weil dir das, was du getan hast, keine Ruhe lässt.«
Emma spürt, wie sich ihr Puls beschleunigt. Sie denkt an all die durchwachten Nächte, in denen sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Und an den schlafenden Hannes neben ihr, der ihr mit jedem seiner tiefen Atemzüge weiter zu entgleiten schien. »Ich hatte keine Wahl«, sagte sie, wie sie es schon unzählige Male zu sich selbst gesagt hat.
Als er weiter auf sie zukommt, muss Emma sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Erst unmittelbar vor ihr bleibt er schließlich stehen. »Hannes hatte keine Wahl. Du hast ihm die Entscheidung abgenommen.«
In Emmas Magen ballt sich eine unerträgliche Hitze zusammen, die binnen Sekunden in ihren ganzen Körper ausstrahlt. Sie hält seinem durchdringenden Blick nicht länger stand und wendet sich ab. »Sei still.«
Aber Ludwig ist nicht still. »Du hast uns beide auf dem Gewissen«, sagt er. »Hannes und mich. Und du erträgst die Schuld mit jedem Tag weniger.«
»Sei still!«, schreit sie. »Sei still!«, hallt es schrill von den umliegenden Bäumen zurück. Romy springt auf und fängt wie von Sinnen an zu bellen. Ein paar Krähen steigen kreischend mit in das Geschrei ein. Emma greift nach einem Ast. Ihre Finger schließen sich fest um das raue Holz. Dann schlägt sie zu. Der Ast saust durch die Luft, doch er verfehlt sein Ziel. Sie holt wieder aus. Und wieder. Emma schlägt zu, bis sie die Kräfte verlassen. Dann gleitet ihr der Ast aus den Fingern. Er ist voller Blut. Als Emma aufschaut, ist Ludwig fort, und als sie wieder zu Boden sieht, ist auch das Blut verschwunden.
Hannes sitzt auf der Bank unter dem Apfelbaum. Unter demselben Apfelbaum, in dem sie schon als Kinder zusammen herumgeklettert sind und unter dem er sie vor all den Jahren gefragt hat, ob sie seine Frau werden will. Auf seinen Knien liegt eine dünne Decke und darauf ein aufgeschlagenes Buch. Die Abendsonne taucht sein Gesicht in goldenes Licht.
Als Hannes ihre Schritte auf dem Kies hört, hebt er den Kopf. »Du warst lange unterwegs heute«, sagt er und klappt sein Buch zu. »Wie war dein Spaziergang?« Zwischen den Seiten lugt eine getrocknete Kornblume hervor.
»Ich hab ihn erschlagen«, sagt Emma. »Den Ludwig.«