Postmoderne Einöde

And when we were children, staying at the arch-duke’s,
My cousin’s, he took me out on a sled,
And I was frightened. He said, Marie,
Marie, hold on tight. And down we went.
In the mountains, there you feel free.
I read, much of the night, and go south in the winter.
– T.S. Eliot: The Waste Land

Der Eingang des Clubs ist tagsüber und am frühen Abend so gut wie gar nicht und auch nachts nur für Eingeweihte auffindbar. Man will keine ungebetenen Gäste hier; die, die kommen, kommen durch Mund-zu-Mund-Propaganda oder persönliche Einladung des Veranstalters. Sollte es doch jemanden vor den Eingang verschlagen, der oder die ungebeten hierherkommt, wird er oder sie weggeschickt. Dafür sorgt der Türsteher, der, Respekt einflößend, wie es seinem Metier entspricht, sonst ein netter Mensch ist. Vor dem Eingang zum Club aber lässt er sich das nicht anmerken, ist streng, bestimmt, dabei zwar höflich, aber immer den Eindruck vermittelnd, dass er zur Not auch anders kann.
Wenn man es an ihm vorbei geschafft hat, kennt man sich untereinander meist schon, wird von der jungen Frau, die einem die Garderobe abnimmt und sicher verwahrt, mit Namen begrüßt und bekommt ein herzliches Lächeln geschenkt. Man ist dann schon umringt von Bekannten, Freunden, Gleichgesinnten – eben Auserwählten, die sich glücklich schätzen können, über Umwege oder auch direkt mit dem Besitzer des Ladens bekannt zu sein, der reich genug ist, diesen Club für alle, die reinkommen, gratis zu führen. Gratis bedeutet, man zahlt keinen Eintritt. Die Getränke kosten trotzdem etwas. Aber Geld spielt für niemanden hier eine große Rolle.
Täglich legt jemand anderes auf. Diese DJs lassen sich, zumindest in den Augen des Besitzers, eher symbolisch entlohnen; für ihn sind die paar Scheine, die er jedem von ihnen am Ende eines Abends zusteckt, Lappalien.

Die Scheibenwischer haben keinen Nutzen mehr; man muss im Schritttempo fahren. Der Regen, der seit dem Mittag niederprasselt, ist schlimmer als alles, was sie bisher erlebt hat. Es ist ihr schon im Büro aufgefallen, dass es draußen stockdunkel ist, dass der Regen, der gegen die Fenster schlägt, mehr Lärm macht als normalerweise. Sie ist nach Feierabend eine Stunde länger im Büro geblieben, in der Hoffnung, den Regen aussitzen zu können, nicht bei so einem Wetter im Auto durch die Stadt kurven zu müssen. Dann hat sie aufgegeben, auch deshalb, weil sie ihre Kinder nicht erreicht hat, die allein zu Hause auf sie warten und sich sicher schon Sorgen machen. Sie vermutet, dass irgendetwas mit dem Netz kaputt ist, denn sie hätten sie normalerweise schon angerufen. Das tun sie immer, wenn sie sich verspätet.
Der Weg ist mit dem Auto nicht weit; man fährt zwanzig Minuten, wenn der Verkehr nicht zu stark ist. Jetzt ist sie schon eine halbe Stunde unterwegs, weil sie gesperrten Unterführungen und Unfällen ausweichen muss. Sie hat das Radio an und der Verkehrsfunk wird immer länger. Sie wird von der Moderatorin eindringlich dazu aufgefordert, das Haus nicht zu verlassen, nicht Auto zu fahren. Sie fragt rhetorisch, was ihr denn jetzt anderes übrigbleibt.

Als ich vor einiger Zeit nach einem durchzechten Abend in irgendeinem Nobelclub gerade heimgehen wollte und keine zwanzig Meter neben dem Club, eigentlich gleich hinter der nächsten Ecke, ein Mädchen fand – von dem ich wusste, dass es vorhin auch noch in dem Club gewesen war, weil ich mit ihr geknutscht hatte – das tot war, war es schwer für mich, nicht einfach umzudrehen und zu verschwinden. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Aber im selben Moment erschreckte mich eben der Gedanke sosehr, dass ich doch blieb und sie mir genauer ansah. Ich brauchte weder nachsehen, ob sie noch atmete, noch ihren Puls fühlen. Heute bin ich froh über den Alkoholspiegel, den ich in jener Nacht hatte, weil er verhinderte, dass ich alle visuellen Informationen sofort verarbeitete, und mich vieles auch wieder vergessen ließ. Das führte dazu, dass ich die Tote zwar mit einem gewissen Ekel betrachtete, aber nicht ausrastete, sondern die Rettung rief. Ich dachte auch nicht daran, dass der, der ihr das angetan hatte, noch in der Nähe sein konnte; ich somit eigentlich gut daran täte, wegzulaufen. Stattdessen beschrieb ich dem Sanitäter am Telefon den Zustand des Mädchens so gut ich konnte. Ich beschrieb ihm, dass sie mit offenen, hervorquellenden Augen dalag, ihre Hautfarbe, dort, wo man sie vor lauter Blut erkennen konnte, bläulich war; keine Ahnung, ob das von Blutergüssen oder vom Sauerstoffentzug kam. Denn sie hatte außerdem – so festgezurrt, dass er im Fleisch versank – einen Kabelbinder um den Hals. Sie ist tot, sagte ich zu dem Sanitäter, der mir sagte, ich solle den Kabelbinder aufmachen, worauf ich entgegnete, dass ich kein Messer dabeihatte. Er antwortete, dass ich dann eben so Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten solle. Ich glaube, ich lachte ihn aus.

Er war einer dieser Menschen, wie man sie nie im echten Leben sah; einer dieser Menschen, die nur auf großen Bühnen oder Kinoleinwänden real wirkten; deren Schönheit, wenn sie einem auf offener Straße begegneten, unwirklich schien. Das war einer der Gründe, wegen denen er gehasst wurde. Er war sich dessen sehr bewusst, aber er stieß sich nicht daran. Dieser Hass, der meist auf die bewundernden Blicke folgte, war von Neid getragen, und das gefiel ihm. Er mochte es, diese Gefühle in anderen Menschen hervorzurufen. Irgendwann hatte er einmal gelesen, dass Schönheit in den Augen der Menschen mit Reinheit einhergeht, und dass Reinheit, echte Reinheit, Sicherheit vermittelt und einen liebenswert macht; ähnlich wie niemand einer dummen Aussage, die aus Naivität, mit der Reinheit ebenso oft einhergeht, hervorgeht, böse sein kann. Das deckte sich nicht mit seiner Erfahrung: Er war schon immer schön gewesen, rein, und niemand hatte ihn jemals wirklich gemocht. Nur beneidet.
Diese Schönheit hatte aber auch den Vorteil, dass er, als Attraktion, von einer Gesellschaft, zu einer Feier, in einen Club eingeladen wurde und dass jeder in seinem Umkreis so tat, als wollte er gut Freund mit ihm sein. Eines Tages sprach ihn auf offener Straße jemand an und lud ihn für den darauffolgenden Abend in einen Club ein, den er noch nicht kannte. Er sagte zu; Neues, und sei es auch nur ein Club, reizten ihn immer schon.

„Woher, frage ich mich, nehmen Sie eigentlich die Frechheit, mir zu sagen, wie ich meinen Job zu tun habe? Oder mir in fachlicher Hinsicht zu widersprechen? Wenn ich sage, sie war schon tot, als ihr der Kabelbinder umgeschnürt wurde, dann ist das auch so!“ Es machte sie wütend, wenn ein Beamter sie fragte, ob das nicht auch so und so gewesen sein könne, nur damit es seinen bis dato zusammengereimten Erkenntnissen nicht widersprach. „Ich verspreche Ihnen, die Todesursache war eine Überdosis. Warum man ihr dann den Hals abgebunden hat, weiß ich nicht, muss ich auch gar nicht, weil das Ihre Aufgabe ist, herauszufinden. Und die offenen Wunden, aus denen sie so geblutet hat, sind auch nicht tödlich gewesen. Jedenfalls: Wegen Mord kriegen Sie hier mit meinem Obduktionsbericht niemanden mehr dran. Außer man hat sie dazu gezwungen, zu viel zu schnupfen. Aber stranguliert oder erschlagen hat sie keiner. Das ist ein Fall für die Suchtgiftabteilung, nicht für Sie. Außer Sie wollen wen wegen Körperverletzung oder Leichenschändung drankriegen.“
„Ja, ist ja gut, dann war sie eben schon tot. Decken Sie sie wieder zu, ich hab genug gesehen.“
Ihre Stimmung hellte sich auf. Der kleine Polizist, der ihr gegenüberstand, war ein bisschen weiß um die Nase. Ihr tat es nicht leid, dass sie die Tote vor ihm noch einmal aufgemacht hatte, um ihm alles ganz genau zu erklären, was sie nur bei Leuten machte, die ihr besonders auf den Geist gingen. Kaum einer der Kriminalbeamten hielt den Anblick aus, ohne zumindest bleich zu werden, wenn sie in einer Leiche herumfuhrwerkte.

Es ist so heiß und so trocken, dass die Luft flimmert und jeder Tropfen Alkohol auf der Stelle berauscht. Allerdings schwitzt man ihn auch gleich wieder aus. So fühlt es sich wenigstens an. Die Feier im Garten steigen zu lassen war doch keine so gute Idee. In einem Garten mit Pool ginge das noch, aber ohne Pool sitzen alle nur sich gegenseitig zu fächernd im Schatten. Alle sind zu erschöpft, um zu reden. Stimmung mag nicht so recht aufkommen. Man möchte meinen, dass es besser würde, wenn man etwas auszieht, aber auch das bringt nichts mehr. Außer aufgebrannte Haut. Die Sonne ist eine erbarmungslose Göttin. Und ihre Strahlen Peitschenhiebe. So etwas, solche Hitze, solche luftraubende Hitze kennt man sonst nur aus dem Urlaub.
Wenn man durch die Stadt geht, ist es noch schlimmer. Hier hat die Hitze etwas Persönliches: Sie strahlt von oben herab und vom Asphalt herauf; schlägt auf jeden mit einer solchen Wucht ein, als wollte sie sich an einem rächen.

In den letzten Wochen kommt es zu immer mehr toten Jugendlichen im Zusammenhang mit Drogen. Überdosen. Manchmal macht’s auch die Mischung. Oft Menge und Mischung. Wohlstandsverwahrloste, Söhne und Töchter aus gutem Hause, die nichts mit sich anzufangen wissen auf der einen Seite und Kinder, denn was sind das schon anderes als Kinder, die ihre Sucht von ihren Eltern geerbt haben, ihr letztes Taschengeld oder auch Gestohlenes dafür ausgeben: für den letzten Schuss, für ein letztes High, für die letzte Line.
Was ihnen allen gemein ist, ist die unendliche Traurigkeit, versteckt, weit hinter ihren Pupillen, in der hinteren Hälfte des Glaskörpers, nur kurz zu sehen, wenn man sie überrascht, es schafft, ihnen einmal ganz tief in die Augen zu schauen, bevor sie ihre Kapuzen oder Kappen oder Haaren wieder ihre Gesichter in Schatten hüllen lassen.

Beim ersten Schuss sahen wir uns noch stirnrunzelnd an, ohne die Flucht zu ergreifen. Wir konnten das Geräusch nicht einordnen, kannten Schüsse nur aus dem Fernsehen. Ein Schuss ist ein Geräusch, das nicht in unsere Realität gehörte, ein genauso in die Welt des Kinos gehörendes Phänomen wie Aliens und Dinosauriervergnügungsparks. Als ein zweiter Schuss ertönte und einer von uns in die Schulter getroffen wurde, sahen wir zuerst ihn verwundert an und er uns, dann drehten wir uns in die Richtung, aus der der Bewaffnete kam. Dann erst rannten wir.
Jemand, der es nicht gewohnt ist, angeschossen zu werden, schreit nicht. Er ist verwundert, fasst sich an die Wunde, sieht die mit Blut verschmierten Finger an, tut gut daran, weiterzulaufen, solang der Schock ihn den Schmerz nicht fühlen lässt. Auch jemand, der tödlich getroffen wird, schreit nicht. Er bricht einfach zusammen, stumm, genauso verwundert die Stirn runzelnd, wie jemand, dessen Realität durch den Klang eines Gewehrs plötzlich zerrissen wird.

Beim Nachrichten Schauen machte sie sich immer Notizen für ihre wöchentliche Glosse in einer Tageszeitung. Das hatte den Effekt, dass sie zum einen eine ironische Distanz zum Weltgeschehen aufbauen konnte und zum anderen immer am neuesten Stand war, weil sie Nachrichten aufmerksamer schaute als andere. Sie fand ersteres ärgerlich; das fiel ihr zum Beispiel bei der Nachricht auf, dass es immer mehr Jugendliche gab, die an Drogenüberdosen starben. Das nahm sie zur Kenntnis, schrieb sich irgendeinen dummen Witz dazu auf, und schluckte erst dann betroffen, als sie den Fernseher ausmachte. Dasselbe galt für die Nachrichten über die Waldbrände, die sich seit Jahren häuften, oder auch für die Bilder von übervollen Schlauchbooten, die aus Kriegsgebieten, vom Wetter zerstörten Gebieten, vom Meer verschluckten Gebieten kamen. Wenn ich jetzt jung wäre, würde ich auch koksen, dachte sie und schrieb das auf; für die Glosse. Mit diesem Zusammenhang würde sich sicher ein guter Text zusammenbauen lassen.

Als er an dem Joint zieht, den ihm seine Freundin gerade gegeben hat, kann er sich endlich entspannen. Er spürt, wie der heiße Rauch seine Zunge passiert, seine Luftröhre hinunterströmt und sich in seiner Lunge niederlässt; spürt, wie der Sauerstoffaustausch in seinen Alveolen vom THC gekapert wir und sich dieses an seinem Nervensystem festsetzt. Er atmet aus, sieht dem Rauch dabei zu, wie er vom Wind davongetragen wird. Dann sieht er die Wirklichkeit, die er sehen will, pickt sich die Elemente daraus hervor, die ihn nicht verstören, lässt alles verschwinden, was in seiner idealen Welt nicht vorkommen sollte. Er weiß, sobald die Wirklichkeit wieder auf ihn einschlägt, sobald die Wirkung aufgehört hat, sobald der Schleier reißt, den das THC ihm webt, wird er sich wieder genauso miserabel fühlen, wie gerade noch.