Postmodernes Atmen

Hauchdünn wie die Flügel eines Schmetterlings trennt das Weinglas den Sauerstoff vom Sauvignon. Eine Grenze so dünn, dass sogar ein menschlicher Schrei in der richtigen Tonlage sie brechen könnte. Zwei Michelin-Sterne trennen die Luft, die wir hier drinnen atmen, von dem Abgasnebel, dem die Passanten hinter der Fensterscheibe ausgesetzt sind. Wir sitzen diametral an einem runden Tisch, sodass Emma den Rücken zum Fenster hat. Für sie ist die Welt ein einziges Restaurant. Ich habe den Blick auf die Straße, wo zwei Tauben gerade den Kadaver einer überfahrenen Ratte zerrupfen.

„Ist dir aufgefallen, dass es nur noch graue Tiere gibt?“, frage ich.

„Wie es in den Wald ruft, so schallet es auch hinaus“, entgegnet sie. Der Kellner serviert gebratene Elchrouladen in Austernpilzsoße mit Herzoginkartoffeln. Ich habe ihn gar nicht kommen sehen. Wir stoßen die Gläser gegeneinander. Ein kaum merkliches Klirren hallt in meinem Kopf nach, während wir kauen, schlucken, atmen.

Beim Dinieren konservieren wir gepflogen über gespaltene Subjektbegriffe, fixieren Foucaults Begriff der Biopolitik und vertiefen uns in Diskussionen über Lacans Graph des Begehrens. Wir: zwei kultivierte Abstraktionen der Natur. In Fleisch gewickelte Netzwerke, die Informationen miteinander austauschen. Wie man es uns beigebracht hat, zerrupfen wir die Rouladen mit unserem Besteck, halten sie fern von uns und führen sie dann zum Mund. Das heißt, wir führen die Gabel zum Mund. Das Essen berühren wir gar nicht. Und während wir die Messer mit dressierter Feinakrobatik durchs Fleisch manövrieren, komm ich mir vor wie ein Außerirdischer. Als hätte ich nichts mit dieser Welt gemeinsam und wäre nur zu Besuch hier. Als wäre alles fremd und toxisch. Wir beenden das Essen mit einem besonders intensiven Diskurs über präaxiomatische Bedingungen metaphysischer Systeme und Gödels Unvollständigkeitssätze. Auf einen Digestif verzichten wir.

Die Limousine chauffiert uns durch Landschaften aus Stahl und Beton. Parodien dessen was hier früher mal war. Vor unserer Zeit. Plakate von Regenwäldern im Neonlicht und überall symmetrische Gesichter, die zwischen Hochhäusern aus Werbeanzeigen die Stadt observieren. Durch die Scheiben verschlingen unsere Augen diese Welt. Dezent, wie ein kleiner Falter der von draußen hinein geflattert ist, berührt Emma meine Hand. Ihre Finger liegen auf meinen. Ganz leicht.

„Die Menschen atmen postmodern“, sagt sie. Ich reagiere nicht, sondern schaue mir die Wesen dort draußen an und schnappe mir eines davon. Wie ein aufgescheuchtes Tier fuchtelt es herum, als ich es auf den Seziertisch meines Geistes spanne und mit psychoanalytischem Instrumenten seinen Astralkörper zerschneide. In nur einem Augenblick kartographiere ich sein Unterbewusstsein, leite daraus einen Jungschen Archetyp ab und passe dessen Handlungs- und Motivationsspielraum dem an, was mir Kleidungsstil und Körperhaltung verraten. Um es anders auszudrücken: Ich breite den Menschen vor meinem Innern aus und analysiere ihn in der Suche nach etwas, mit dem ich mich identifizieren kann. Nach einem gemeinsamen Nenner. Es ist als wollte man das Salzwasser durch eine Karte des atlantischen Ozeans hindurch schmecken. Je tiefer ich in den Menschen hinein schaue, desto hohler wirkt er. Je mehr mein Auge von ihm verschlingt, desto weniger bleibt von ihm übrig. In diesem Moment fühle ich mich, als hätten wir nicht denselben Ursprung. Als wäre ich nur hier um Dinge von der Straße aufzuheben und sie auseinanderzunehmen. Ewiges Schneiden, ohne je etwas zu berühren.

Ich nehme einen Rückwärtsgang aus meinen Gedanken heraus und steuere von Emmas Kommentar über postmodernes Atmen auf ein Gedicht von Erich Kästner zu. Von dort aus nehmen wir gemeinsam eine überraschende Abbiegung in die Quantenphysik, ehe wir die Auffahrt zum deutschen Idealismus befahren. Mitten in der Diskussion über Schellings Transzendentalphilosophie fällt mir auf, dass der kleine Falter noch immer auf meiner Hand liegt.

Parallel zur Annäherung unseres Ziels spitzt sich unser Gespräch Kilometerweise zu, bis wir den Gipfel einer heiklen metaphysischen Problematik erklommen haben und ich den Versuch unternehme zu fliegen, indem ich die gesamte Welt in Schellings Idee des Absoluten hineinquetsche. Auf die letzten Meter kommen wir an einer Ampel zum Stehen und ich unterbreche mein Plädoyer, weil ich bemerke, dass Emma begonnen hat kleine Achten auf meine Handinnenfläche zu zeichnen. Bevor ich den Faden wieder aufnehmen kann, spinnt sie ihn schon weiter.

„Spiel nicht zu viel mit den Begriffen! Schon gar nicht mit dem des Absoluten! Schneide dir nicht mehr ab, als du verdauen kannst!“, ermahnt sie mich. Bereit für den Absprung, gerate ich ins Straucheln und starre in den metaphysischen Abgrund, der sich vor mir auftut. Abgelenkt von ihrer Berührung stammle ich: „Aber treibt es dich nicht auch weiter zu Abstraktion? Willst du die ewige Wunde nicht schließen? Das große Ganze und darüber hinaus! Das Absolute …“

„Natürlich will ich das. Aber wir dürfen nie vergessen, wo wir herkommen. Wir müssen uns regelmäßig erden“, sagt sie und der Schmetterling zieht meine Hand zwischen ihre Beine. Unter Mühe bringe ich es fertig ein mehrdeutiges Wortspiel zusammenzubasteln, welches Kants Formen der Negation beinhaltet, mit der phonetischen Ambiguität des Wortes Kant spielt und sich auf Emmas Unterwäsche bzw. ihre negierte Unterwäsche bezieht, als auch auf jenes, welches sich dahinter befindet. Emma sagt: „Alle Wege führen nach Rom.“ Die Ampel springt auf Grün und ich ärgere mich, dass ich den Begriff des Absoluten nicht in mein Wortspiel gesteckt habe, wo er doch so gut da reingepasst hätte.

Im Hotelzimmer hängen Bilder von Elchen und Königstigern, gerahmt und gefangen hinter Glas. Früher wären es Geweihe und ein Fellteppich gewesen. Die Wirklichkeit abstrahiert sich, aber das Motiv bleibt immer gleich, ist der letzte semikultivierte Gedanke, der durch meine Synapsen mäandert, als Emma ihre Lippen auf meine legt. Zwei Welten treffen aufeinander. Ich wickle sie aus dem dunkelgrauen Ledermantel, der ihr Fleisch umgibt. Und wie Schnäbel hungriger Vögel rupfen meine Hände ihr die Klamotten vom Leib, bis da nur noch dieser nackte haarlose Körper ist. Alles, was sprießt, wurde abgetötet; ihre Haut eine leere Landschaft. Wo einst Regenwälder waren, lege ich mich hinein. Ich scheine Licht darauf und laufe darin umher wie ein wildes Tier. Sie ist meine Erde. Und mein Gott! Diese Hände auf mir! Wilde Pferde, die durch mich hindurch stürmen. Diese Brüste, dieser Mund! Sie verschlingt mich wie ich sie verschlinge. Auf der Oberfläche des Hotelzimmerspiegels fressen zwei Liebende einander auf. Und sie essen mit den Händen, ziehen sich näher aneinander heran, greifen ins Fleisch, kauen aufeinander herum, wie bei gutem Rotwein. Die Figuren versuchen sich gegenseitig runterzuschlucken, aber sie werden es niemals komplett schaffen. So sehr sie sich bemühen, sie können einander nicht so tief berühren, wie sie es gern wollten.

Unter der asphaltierten Schicht, die meine Seele kultiviert, sprießt etwas Unbezwingbares. Es durchbricht meine Gedankenstadt und bemächtigt sich so vollständig meiner, wie nur die Natur selbst es könnte. Diese Beine, denke ich. Diese Taille. Der Arsch. Die Brüste. Ich schwappe über den Tellerrand. Du. Ich. Hier! Jetzt! Ich will dich! Ich will dich so! Ja! Komm her! Näher! Noch näher! Ich will dich fressen! Friss mich! Nimm mich in dir auf! Ich schreie mir die Menschenseele aus der Brust, doch sie bleibt an mir kleben, dieses gespaltene Wesen! Emmas Nachtfalterhände kratzen Furchen in meinen Rücken, wühlen die Erde auf, die mein Körper ist. Wir jaulen und fauchen und beißen. Von ihrer Haut lecke ich das Salz des atlantischen Ozeans. Und ich spüre wie nah wir der Wahrheit sind, wie knapp wir vor einem Sturm stehen, der die ganze Welt ertränken wird. Aber wir machen weiter. Unsere Worte werden zu Schreien. Wir steigen auf ihnen hinauf, je tiefer wir uns ineinander fallen lassen. Und unsere Schreie steigen höher und höher, bis irgendwo ein Glas zerbricht.