Ich habe den Dachboden meines Elternhauses ­– den stellenweise fast ruinenhaften Überresten eines ehemaligen Kleinbauernhofes in Norddeutschland – von Kindesbeinen an so häufig und eindringlich durchsucht und erforscht, dass mir die Dachbodengänge quasi schon zu eine Art von seltsamem Hobby, einer exzentrischen Marotte geworden waren.
In meinen endlosen Erkundungen dieses Dachbodens offenbarte sich ein Gestus, der sich vielleicht so erklären lässt, dass ich immer glaubte, irgendwo hier, irgendwo in einem Winkel verborgen, in einer alten Holztruhe vielleicht, die Antwort auf eine Frage zu finden, eine Frage, die ich bis dahin nicht gekannt, sondern nur erahnt hatte, von der ich eigentlich nichts wusste, dennoch aber davon überzeugt war, dass es sie geben musste und dass sie – und eben ihre Beantwortung – von höchster Wichtigkeit waren. Ich wollte in dieses Geheimnis, das vielleicht keine lebendigen Träger mehr hatte und also nur in ältesten Gegenständen stumm aufbewahrt lag, unbedingt eingeweiht werden.

Ein solches eingeschworenes Objekt fand ich schließlich auf diesem Dachboden in einem alten, schwarzen Tagebuch, das in kürzesten Bleistifteinträgen die Jahre 1933 bis 1935 protokollierte. Das Tagebuch, das ich seitdem mehr per Ausschlussverfahren als durch tatsächliche Namensvermerke mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit meiner Ur-Urgroßmutter zuordnen konnte, enthält mit auffallender Regelmäßigkeit abgefasste, tägliche Einträge, deren Inhalt sich beinahe ausnahmslos auf das Wetter, das Aus- und Eingehen der Personen sowie auf allerhand bäuerliche Tätigkeiten wie den Einkauf mehrerer „Fuder“ genannter Wagenladungen Dünger oder das Bündeln von Heu zu Heugarben beschränkt. Soweit ich das Tagebuch, das in Kurrentschrift abgefasst ist, entziffern konnte, weicht es an nur drei Stellen von dieser Regelmäßigkeit ab. Der erste dieser Einträge stammt vom 30. Januar 1933 und ist zunächst in ähnlicher Gleichförmigkeit abgefasst wie sämtliche anderen Einträge. Er verzeichnet als Ereignis des Tages einzig einen Ausflug: „Kinder und ich nach Martha“. Über dem Eintrag jedoch, getrennt durch die über jeden einzelnen Eintrag geschriebene Jahresziffer, 1933, die beiden Worte: Hitler Reichskanzel. Der zweite Eintrag folgt auf den Tag genau vier Wochen später und lautet: „Montag Februar 27. Gefroren. Sturm. Reichstagsgebäude gebrannt von Kommunisten angesteckt“. Am 29. September 1935, gegen Ende des Tagebuchs also, schreibt meine Ururgroßmutter über die Geburt meiner Großmutter, ihrer Enkelin, wie über ihr eigenes Kind „Kleine Tochter geboren Marga“, und vergisst an diesem Tag, einem Sonntag, alle Bemerkungen über das Wetter.

Letzteren Eintrag ihr zu zeigen, ging ich mit dem Tagebuch etwas später zu meiner Oma, die vor etwa zwanzig Jahren aus dem Haupthaus in eine Anliegerwohnung des Hauses gezogen war; auch, weil ich mir erhoffte, diese kärglichen und einzigen Bemerkungen über meine familiäre Vergangenheit während der Nazizeit um einige Eindrücke ergänzen zu können, die meine Oma als Kind geprägt hatten. Wir saßen auf ihrem Sofa und tranken Tee aus Tassen, die wir auf ihrem Wohnzimmertisch abstellten, dessen Glasplatte durch eine Binnenschicht künstlich so modifiziert war, dass sie aussah, als wäre sie in unzählige Scherben zersplittert. Von den vielen Einzelheiten, die sie mir erzählte, erinnere ich am eindringlichsten eine Randbemerkung über meinen Urgroßvater, einen Milchfuhrmann, der während der Kriegsjahre auf seiner Kutsche eine dunkle Plane mitzunehmen pflegte.
Wenn der Fliegeralarm ertönte, verließ er seine Kutsche und bedeckte sie in ihrer Gesamtheit mit dieser Plane, um von den Fliegern nicht entdeckt zu werden. Diese Erzählung brachte meine Oma zu der Beschreibung ihres sogenannten „Bunkers“, eigentlich einzig ein Erdloch, das man damals auf einer Grünfläche im Sichtschutz einiger Alteichen ausgehoben hatte; die Grasnarben hatte man aufbewahrt, um sie auf Holzbohlen befestigen zu können, die man, wenn sich die gesamte Familie einmal in diesem Loch verkrochen hatte, wie eine Decke darüberlegte, um den Piloten den Eindruck einer seelenleer daliegenden Rasenfläche zu verschaffen.

Viel Wert legte meine Großmutter ferner auf einen breit ausgelegten Bericht über das sogenannte „Schwarzschlachten“. Sie begann ihre Erzählung mit dem Hinweis darauf, dass die Anzahl an Schweinen, die ein Bauernhof damals halten durfte, auf zehn begrenzt war. Acht Tiere sollten an den Staat gehen, zwei durften für den eigenen Bedarf geschlachtet werden. Mit dem Schwarzschlachten hatte es nun folgende Bewandtnis: Mehr Regel als Ausnahme war es, dass man trotz gelegentlicher Kontrollen ein elftes Schwein hielt; im Dunkeln wurde dieses dann, bei Bedarf, zu den Nachbarn „Abrahams“ gebracht, die auch in dem alten Tagebuch zahlreich namentlich erwähnt werden, und die in der Nacht heimlich Schlachtungen durchführten, um so den eigenen Nahrungsvorrat aufzustocken. „Wir hatten immer zu essen“, sagte sie. „Wir konnten schummeln.“

Wie es meine Angewohnheit war, wenn ein Gespräch im Sande verlief, begann ich, als meine Oma ihre Erzählungen beendigt hatte, mich mit den diversen Gegenständen zu beschäftigen, die sich auf ihrem Wohnzimmertisch befanden. Da sie immer mehr den Überblick über die vergangenen und anstehenden Ereignisse verlor, hatte meine Großmutter zunächst begonnen, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur hinsichtlich des lakonischen Protokollstils, sondern auch hinsichtlich der Themen ähnelten ihre Einträge bis zur Ununterscheidbarkeit denen aus dem Tagebuch, das ich auf dem Dachboden gefunden hatte. Fast die einzige Abweichung bestand darin, dass in den Notizen meiner Großmutter in einigen Wörtern einzelne Satzzeichen, insbesondere Vokale, fehlten.
Da sie dieses Tagebuch jedoch irgendwann verlegte, verteilten sich ihre Versuche, den Überblick zu behalten, auf eine immer größere Anzahl an Notizbüchern und Kalendern, über die selbst sie irgendwann den Überblick verlor. Wenigstens zwei Kalender lagen auf ihrem Wohnzimmertisch, darunter einer, den man jedenfalls mit gewisser Schlüssigkeit als den „Hauptkalender“ bezeichnen konnte, da er – für gewöhnlich jedenfalls – in ihrer Küche hing und meine Mutter und meine Tante in ihm die wichtigsten anstehenden Termine verzeichneten. In jenem, einem Wandkalender der Katzenfuttermarke „Whiskas“ auf das Jahr 2022, verdeckte eine mit Tesafilm fixierte, von meiner Mutter abgefasste Erinnerungsnotiz an die Hochzeit meines Onkels etwa das untere Drittel des Monats März. Hebt man dieses Notizblatt, so wird man gewahr, dass im Spätmärz nur ein einziger Termin für meine Oma anstand, der mir jedoch entfallen ist. Ebenfalls offenbart sich so ein der Handschrift nach eindeutig meiner Großmutter zuzuordnender und – im Kontext der anderen Eintragungen in ihrem Aufgebot an Erinnerungsdokumenten – höchst außergewöhnlicher Vermerk am unteren Rand des Kalenderblattes:
(Ukraine)Krieg)