A.
Wenn ich nichts mehr in der Zukunft finde, dann drehe ich mich um und schaue zurück. Ich erinnere mich genau an unser erstes Treffen. Du saßt in der Küche und hast dich zur Fensterbank gebeugt, auf der das grüne Plastiknetz mit den Mandarinen lag. Du hast so lange an den faserigen Fäden gezogen, bis ein Loch entstand, das groß genug war, um eine der orangenen Kugeln durchzuquetschen. Ich sah dir dabei zu und deine Bewegungen waren grob, so als ob du dich selbst gerne durch das Loch drücken würdest, als würden sich deine Fingernägel in etwas anderes als die Schale der Mandarine bohren. Während du die Schale abgerissen hast, hast du dich enger in deine Strickjacke in Übergröße gewickelt und schon da wusste ich, dass du mir gefallen hast. Dass du mir als nächstes Applaudieren könntest, wenn ich über ein Geländer balanciere. Dass du dein Gesicht bestimmt nicht verziehen würdest, wenn du dir einen Shot in den Hals kippst. Willst du auch ein Stück, hast du gefragt, nachdem du die weißen Fasern in versuchter Sorgfältigkeit auf dem dreckigen Tisch zusammengeschoben hast. Ich habe den Kopf geschüttelt, mich auf den unbequemsten Stuhl dir gegenüber gesetzt und dir dabei zugesehen, wie du dir die Stücke konzentriert in den Mund geschoben hast, drei mal gekaut und lange geschluckt.
Nach der Hälfte hast du aufgehört und gesagt: eigentlich schmecken die noch gar nicht.

B.
Du bist ein Mensch, der den Raum einnimmt, wenn du ihn betrittst. Wenn wir gemeinsam Kaffee trinken gegangen sind, dann hast du deine Jacke auf einen Stuhl gegenüber geworfen und die Schuhe von den Füßen und gekickt und immer ein wenig lauter geredet, als du müsstest. Und dann gab es die Tage, da nahm der Raum dich ein, drückte sich auf deine Schultern, zerrte dich nach unten und thronte sich über deinem Kopf auf. Ich habe immer an dir bewundert, dass du dein Selbstbewusstsein wie einen Mantel getragen hast, so lange, bis ich erkannt habe, wie oft er dir von den Schultern rutscht, weil er dir eigentlich zu groß ist.
Ich habe nie jemanden so selbstbewusst weinen und sich die Nase am Ärmel abwischen sehen und so laut schweigen hören wie dich.

A.
Unsere Kennenlern-Geschichte ist so langweilig, dass ich mir manchmal wünsche, genau dabei wären wir stehen geblieben. Wir wären eines dieser Paare, was abends in die gemütlichsten Jogginghose schlüpft und auf der Couch vor dem Fernseher zu Abend isst, nur waren wir nie ein Paar. Ich weiß nicht, ob ich je in dich verliebt war, oder ob ich dich einfach nur gebraucht habe. Ich wünschte, wir wären eines dieser Paare gewesen, bei denen die eine schon um zehn einschläft und die andere sie weckt, wenn die Folge fertig ist und sie sich noch einen kurzen Kuss geben, bevor sie unter ihre eigene Decke schlüpfen. Ich wünschte wir wären geworden, wie ich früher nie sein wollte. Jetzt bin ich die schlimmere Version, eine, die mir früher nicht ausgemalt habe und die auch nicht mehr durch Augenringe attraktiv wird.

B.
Meine Augenringer sind bunter als meine Klamotten. Ich habe mehr Fragen als Antworten, ich habe mehr Abstand als Nähe, ich habe mehr Staub als Lappen, ich habe mehr einzelne Socken als Paare, ich habe mehr Ex-Bekanntschaften als Freunde, ich habe mehr Einsamkeit als Nähe, ich habe mehr lose Fäden als einen roten, ich habe mehr Spliss als gerade Kanten.
Wir haben uns nicht mehr. Wir haben alles anschreiben lassen, aber die Rechnungen nie bezahlt. Ist schon okay. Ich lege es aus. Du musst mir nichts zurückgeben.

A.
Ich erzähle dir erst jetzt davon, weil ich meine Worte in losen Buchstaben verloren habe. Sie lagen neben den Tabakkrümmeln unten in den Handtaschen, klebten an den Schuhsolen und standen in Einmachgläser abgefüllt ganz hinten im Regal. Ich erzähle dir jetzt davon, weil du noch weißt, wie ich gewesen bin, bevor ich immer traurig war. Ich erzähle dir jetzt davon, weil ich mich auch jetzt noch von dir umarmen lassen will und nicht will, dass du danach Staub von deinen Händen wischst.

B.
Deine Traurigkeit war wie Tinte, die sich in Wasser ausbreitet. Du hast meine Hand genommen und mich mitgezogen, du hast mich nicht vorgewarnt, dass ich jetzt die Luft anhalten muss. Wir waren unsere eigenes Land-unter, wir waren eine Schmerzgemeinschaft, wir waren immer exklusiv, immer reserviert für die Taubheit, die wir uns gegenseitig eingefüllt haben und wenn sie da war, dann haben wir die Worte sein lassen. Du musst es mir nicht mehr erklären.

A.
Früher habe ich dir alles erzählt, weißt du noch? Ich habe dich gefragt, ob mein T-Shirt zu meinem Rock passt, ob ich nochmal deinen Lippenstift ausleihen darf und ob du auch findest, ich sollte auf das Date gehen. Ich habe dir erzählt, wenn ich auf dem Heimweg geweint habe, ich habe dir erzählt, wie oft ich meine Unterwäsche verloren habe und ich habe dir erzählt, dass ich mich immer noch frage, wofür ich das alles mache, das Studium, die Nachtschichten, das Aufschichten von Stress, bis es zu einer Mauer wird, hinter der ich mich auf den Boden setze. Aber danach habe ich dir weniger erzählt, ich wurde weniger und mein Stress wurde mehr, ich habe alle Kerzen ausgepustet und die Chats archiviert. Ich habe dir nicht mehr geantwortet, wann ich das nächste Mal zu Besuch komme, ich habe dir nicht mehr dazu geraten, zu kündigen und ich habe die Postkarten an dich in meiner Kommode vergessen.

B.
Wir waren nicht immer giftig füreinander, aber wir hätten die kleine Aufkleber mit Gefahrensymbolen gebraucht, Schutzbrillen und Handschuhe. Wir haben die Lücke im Regen gefunden, das sanfte Licht, das die Falten glättet, den Wind, der die Haare aus dem Gesicht bläst. Wir haben die Regenschirme verschenkt und Windjacken verschenkt und danach uns: Nimm du mich und ich dich und dann müssen wir wenigstens nicht mehr uns selbst tragen, dann können wir aufhören Verträge mit uns selbst abzuschließen und die Berechtigung für unseren schweren Atem bekommt eine neue Handschrift.
Ich will wissen, was da noch in mir ist, was geschieht, wenn ich alles auskoste, alles rauskrame, auch das, was verstaubt ist und sich nicht mehr vertraut in meinem Körper anfühlt. Ich will wissen, was unter den Stapeln liegt und wer ich noch alles sein könnte, aber du hältst mich fest, du beschriftest mich mit alten Worten, du legst deine Arme um meinen Hals und es fühlt sich mehr an, als würdest du mich erwürgen, statt umarmen. Ich will Neugier auf mich, aber deine Gier auf meine leise Stimme ist lauter als ich es bin.
Ich mache jetzt Schattenboxen mit mir selbst und schlage auf nichts, als meine Gedanken ein.

A.
Weißt du noch, wie wir uns Tattoos stechen lassen wollten, traurige Smileys?

B.
Du hast schon zu oft versucht, das Patent für Traurigkeit anzumelden und wenn ich nicht mehr mit dir spreche, dann schreist du immer lauter. Meine Stille ist dein Tinnitus. Ich will nicht mit dir alt werden und du willst gar nicht alt werden. Bald sortiere ich die Erinnerungen aus, nur ein paar behalte ich, klebe sie wie Fotos in einem Album und stelle es im Regal ab. Nur an Feiertagen werde ich es ansehen, zum Beispiel wenn ich das erste Mal ohne Strumpfhose und Jacke nach draußen gehe und nicht friere, zum Beispiel wenn ich den ersten warmen Kakao des Jahres mache und alleine trinke, zum Beispiel an dem Tag, an dem ich die Neujahrsvorsätze endgültig über Bord werfe, nur einen nicht, den Abstand zwischen uns.

A.
Zwischen uns ist alles verklebt, mit Fotos auf denen wir Grimassen schneiden, Trostpflastern, vertrockneten Blumen, halbfertigen Liebesbriefen.

A.
Wir werden die Briefe für immer unbeendet lassen.

A.
Du antwortest nicht mehr.