Von Riga fahre ich im Schneesturm Richtung Nordwesten mit Ziel Kap Kolka. Entgegenkommende Holzlaster lassen Schneematsch gegen Frontscheiben prasseln. Eigentlich wollte ich durch Moore und an Seen wandern, doch das ist bei dem Wetter aussichtslos. Gut, dann eben mit dem Mietwagen auf Nebenstraßen durch das Naturschutzgebiet. Birken mit dem ersten Grün und gleichzeitig Schnee am Stamm zur Wetterseite. Die Strecke eine Piste, einzelne Schlaglöcher, seifiger Schnee auf Sand, Spurrillen des Vorgängers, seit zwanzig Minuten keine menschliche Begegnung, kleine Seen, Moor, Schilf, Bäume die sich im Schneesturm wiegen. Eine kaum merkliche Steigung, leichtes Gasgeben, Reifenschlupf. Mir fährt es durch den Kopf:
Der Vermieter hatte etwas von „summer tires“ gesagt. Ich versuche, Lenken und Bremsen auf ein Minimum zu reduzieren, bedenke die Trägheitsgesetze. Tiefe Straßengräben. Bleib cool. Rechts ein Gehöft, lange Linkskurve, leichtes Gefälle. Weit voraus, schwarz, ein querliegender Baum. Sachtes Abbremsen, mein Wagen kommt zum Stehen. Ich ziehe die Stirn hoch, Handschuhe an, steige aus. Der Baum scheint nicht zu dick. Kann ich ihn zur Seite ziehen? Rütteln, Treten. Ich greife einen morschen Astansatz, er bricht ab. Spüre meine Wirbelsäule. Versuche die andere Richtung. Breite Schleifspur in der Mitte der Straße. Einen Meter hab ich geschafft. Doch jetzt hängt er unten an einer Wurzel fest. Mehr geht nicht. Ich Blicke in beide Richtungen der verschneiten Straße. Wann kommt hier jemand vorbei? Teufel nochmal. Kiefern, Birken, Wind pfeift, ich in Turnschuhen, der rechte wird nass.
Umdrehen? Die Straße scheint mir zu schmal, zu hoch das Risiko stecken zu bleiben. Wie weit lag das Gehöft zurück? Für die Einheimischen müsste das doch alltäglich sein. Ok, ich entschließe mich zu Fuß zurückzugehen. Einige hundert Schritte, rechts eine Lichtung, ein Reh flüchtet. Mein Auto nicht mehr zu sehen. Noch eine Kurve, links der Bauernhof Meine blauen Schuhe tragen mich über einen Feldweg zu dem heruntergekommenen Haus. Hundegebell. Ein Kläffer kommt in meine Richtung, ich rede ihm gut zu, traue ihm aber nicht über den Weg. Ich rufe „hello, hello“, niemand öffnet. Hinter mir Fußspuren im Schnee, die zu einer Hütte führen. Der Schornstein raucht. Wo ist der Eingang? Ich klopfe an ein Fenster, eine ältere Frau sieht mich und kommt zu einer Brettertür. Wache Augen, kaum noch und nur mehr schwarze Zähne. Sie kein einziges Wort englisch, ich kein einziges Wort lettisch. Ich zeichne eine Straße in den Schnee, einen querliegenden Baum. Keine Chance, sie versteht mich nicht, weist aber zu einem weiteren Haus, das ein gutes Stück von uns am Waldrand liegt. Ich bedanke mich, stapfe zum Nachbarn. „Raudaki“ steht auf einer Holztafel, die im Wind an einem Birkenast schaukelt. Ein mächtiger, verfilzter Kettenhund weist mich mit baritonigem Gebell erneut in die Schranken. Ich bleibe stehen, vielleicht macht jemand auf, Minuten vergehen. Dann ein Mann mit Mütze: „stay where you are“. Er lässt sich Zeit, kommt langsam auf mich zu. Der kalte Wind presst seinen Augen Tränen ab. Ich stelle mich mit Vornamen vor, er skeptisch, ich erkläre mein Problem. Er sagt: „wait there, we take the Stihl“. Ich denke „steel“ und verstehe nicht. Mein rechter Turnschuhfuß kalt und durchnässt. Minuten vergehen. Der Mann fährt in einem weißen Geländewagen vor und lässt mich einsteigen. Ich sage „thank you sir“, er beschleunigt. Er meint, vor zwanzig Jahren sei schon einmal jemand mit dem gleichen Problem zu ihm gekommen. Vor meinem Mietwagen halten wir an. Gemächlich geht er zum Kofferraum, zieht Lederhandschuhe an, nimmt eine orange Kettensäge heraus. Er geht zum Baum, setzt einen Fuß prüfend auf den schwarzen Stamm und wirft die Säge an, blauer Rauch zieht über den Schnee. Im Motorenlärm schneidet er Stücke, die ich zur Seite wuchte. Beim letzten kommt er auf den Straßenkies, Funken fliegen. Die Fahrbahn ist frei. Seine Augen strahlen. Ich bedanke mich. Er sagt: „always welcome, later I will take the wood“. Er streift den rechten Handschuh ab, drückt meine Hand, mir scheint als ob er ein alter Freund wäre. Dann geht er langsam zum Kofferraum. In dem Moment kommt Gegenverkehr, jeder von uns steigt in seinen Wagen, er wendet, fährt zurück zu seinem Haus und ich fahre geradeaus weiter.