Die Geschichte spielt in einer dieser Kneipen, die man nur besucht, wenn man von einem Freund (Ronald) dazu gezwungen wird. Ronald sitzt neben mir an der Bar und versucht mit der Barkeeperin zu flirten, denkt, dass ich das nicht durchschaue und erzählt mir von seiner Baudelaire-Übersetzung, von der er meint, dass „Baudelaire auf diese radikale Weise überhaupt noch nie übersetzt wurde“. Natürlich sehe ich sofort, dass Ronald versucht, mit der Barkeeperin zu flirten, was mir auch egal wäre, wenn er nicht immer wieder so laut „Baudelaire“ sagen und dabei die vorletzte Silbe so eklig in die Länge ziehen würde, als unterdrücke er einen mittelmäßigen französischen Orgasmus. Endlich sieht die Barkeeperin herüber (Ronald lässt sich nichts anmerken), wird dann aber von den viel zu lauten Gästen am Tisch vor der Klotür abgelenkt, die schon wieder nach Likör verlangen (Ronald schaut einmal kurz genervt zu ihnen, so als ob es nur darum ginge, dass er in seinem Monolog gestört wurde). Ich höre Ronald schon seit fünfzehn Minuten nicht mehr zu, nur wenn er mal wieder einen Vers aus seinem Notizheft zu zitieren scheint, nicke ich anerkennend oder schaue vor dem Nicken kurz in die Luft, als würde ich nachdenken. Dass er bei diesen Lichtverhältnissen überhaupt noch aus seinem schmutzigen Notizheft vorlesen kann, erstaunt mich, bis ich mich daran erinnere, dass er seit ein paar Wochen Kontaktlinsen trägt, wie er mir eines Tages am Tresen einer anderen aber genauso geschmacklosen Kneipe ganz stolz erzählt hat. Man sollte meinen, wenn man einem so musisch begeisterten Menschen wie Ronald in die Augen sieht, dass man dann darin irgendetwas erkennen kann, sowas wie Glitzern, aber alles was man findet: Kontaktlinsen. Also jedenfalls trinke ich den Hauswein hier am Tresen, weil ich immer und überall in den Schankbetrieben den Hauswein bestelle, wobei ich dabei immer so selbstverständlich gucke, als wäre das das aller Normalste auf der Welt (den Hauswein bestellen), in der Hoffnung, nicht einfach den billigsten Fusel vorgesetzt zu bekommen. Eigentlich kenne ich mich mit Wein natürlich überhaupt nicht aus, aber immer wenn ich die Fanta oder die Johannisbeersaftschorle bestelle, werde ich von den Barkeepern dieser Stadt so mitleidig angeschaut, als ob ich der Fahrer wäre und deshalb nichts trinken kann und dann entspinnt sich später ein Gespräch über Kleinwagen oder Gebrauchtwagen oder gebrauchte Kleinwagen usf., dem man sich nur unhöflich durch Schweigen entziehen kann, was mir doch noch immer peinlich ist. Also jedenfalls trinke ich Wein und nicke zu Ronald oder schaue wieder einmal nachdenklich in die Luft, als auf einmal Karin durch die Tür kommt mit ihrem zugekoksten Haufen von Museologie-Studenten, die immer so nach dem Waschmittel von Oma riechen, dass mir ganz schlecht wird, wenn ich die sehe. Heute riechen aber alle in der Kneipe dermaßen nach Schweiß und ungewaschenen Genitalien, dass mir nicht gleich schlecht wird. Erst denke ich noch, Karin sieht uns gar nicht, aber dann sagt Ronald (er sitzt mit dem Rücken zur Eingangstür) wieder einmal so laut „Baudelaire“ und kurz darauf „Verlaine“ und „Rimbaud“, dass Karin uns sofort erkennt, ihre lächerlich enge, gelbe Jacke betont lässig über einen Stuhl am Tisch der übrigen Museologen wirft und dann zu uns rüber kommt. Ronald begrüßt Karin überschwänglich, achtet aber darauf, der Barkeeperin zu signalisieren, dass es sich bei Karin lediglich um eine gute Freundin handelt, nicht um ein Fickstück, wie die Jugend das nennt. Ich küsse Karin auf die Wangen. Karin schmeckt nach dem Badeschaum, in dem ich als Kind immer mit meiner Gummiente und dem aufblasbaren Delfin gespielt habe. Die Ente hatte eine Augenklappe und wurde von mir als Piratenschiff missbraucht, während der Delfin ein viktorianisches Handelsschiff spielen musste. Natürlich wusste ich als Kind noch nicht, was ein „viktorianisches Handelsschiff“ ist, aber versenkt habe ich es trotzdem jedes Mal. Ich sage Karin, sie sehe „sehr gut“ aus heute. Karin langt Ronald und mir in den Schritt, wie sie es immer macht bei guten Freunden, um die Stimmung aufzuheitern, was eine ganz furchtbare Angewohnheit ist, wie ich jetzt denke. Ronald ist natürlich sofort besorgt, weil die Barkeeperin das gesehen hat. Sie hat sich gleich angewidert abgewendet, um einen weiteren Likör einzugießen, was aber weder sie noch Ronald sich anmerken lassen wollen, aber doch ziemlich offensichtlich ist. Wäre Ronald ein Hund, würde er jetzt winseln. Ich frage Karin, ob sie heute gebadet hat. Sie verneint, wischt sich aber eine Strähne so aus dem Gesicht, dass ein Schweißtropfen von ihrer Stirn auf meinen Arm geschleudert wird. Das soll wohl provozierend wirken, denke ich mir, aber ich finde es einfach nur ziemlich abstoßend. Ronald täuscht vor, auf die Toilette zu müssen, um der Situation zu entfliehen und schaut auf dem Weg dahin noch einmal sehnsüchtig zur Barkeeperin herüber, die mit beiden Händen im Spülwasser schmollt, als wäre sie eine sehr traurige Bäckerin, die gerade den Teig knetet und dabei die Musik irgendeiner Händel-Arie f ü h l t. Während Karin zweimal laut schnieft und dann husten muss, erzähle ich, wie ich einmal in meiner Schulzeit den Eltern meiner polnischen Gastfamilie unter das Ehebett gekotzt habe, weil ich so betrunken war vom vielen Bier und Vodka. Natürlich ist das eine Lüge, aber Karin findet Fäkalhumor gut. Sie sagt immer, das habe etwas so „erdiges“, was auch immer das heißen soll. Überhaupt habe ich in Polen gar nichts getrunken, weil mir das unangemessen schien. Wäre ich achtzig Jahre früher geboren worden, hätte ich helfen müssen, den Großvater meines Austauschschülers erschießen zu müssen, denke ich jetzt. Karin setzt sich auf Ronalds Hocker und bestellt einen Mojito, den sie sofort inhaliert, um dann seltsam befriedigt und viel zu lange auf einer Limettenscheibe herumzukauen. Ich möchte einen weiteren Hauswein bestellen, kann aber die Barkeeperin nicht finden und resigniere, während mir Karin durch die Limettenscheibe hindurch erklärt, wie ihre Hausarbeit über eine sogenannte Bewegungsskulptur voran geht. Eigentlich möchte ich schon wieder in die Leere starren, aber im Gegensatz zu Ronald sehe ich Karin sehr wohl als Fickstück, wie ich mir jetzt eingestehe und glotze dumm auf ihre kleinen Brüste, was mir irgendwie peinlich sein sollte, denke ich, aber dann muss ich wieder an die Gespräche über Kleinwagen und das anschließende Schweigen denken und entscheide, dass es mir eigentlich nicht peinlich ist (das Glotzen). Ronald ist wohl ins Klo gefallen, denke ich weiter, also jedenfalls ist er jetzt schon viel zu lange weg und mir gehen langsam die Gesprächsthemen aus, also sage ich „Mallarmé“, ohne eigentlich darüber nachzudenken und erfinde dann schnell irgendeine Geschichte, die mir angeblich Ronald über Mallarmé erzählt hat. Karin meint, die Bewegungsskulptur trage den Namen „Somnambul“ und wie sie das so sagt, kaut sie jeden Konsonanten in die ausgelutschte Limettenscheibe, als würden ihre Lippen die Hauptrolle in einem dieser alten deutschen Pornos spielen, in denen alle Männer feuchtes, tiefschwarzes Brusthaar auftragen, das sie sich vor Drehbeginn wie ein Toupée auf die Brust geklebt haben. Genauso wie die Frauen an den Brusthaaren saugt Karin an den Fasern der Limette. Dann greift sie über die Theke nach der Flasche kubanischem Rum und schenkt sich dreist nach, weil die Barkeeperin immer noch nicht wieder da ist. Ich habe Angst, dass Karin in meinen Rucksack kotzt, den ich vorsorglich tiefer zwischen die Stuhlbeine meines Barhockers stopfe, und hänge Ronalds Tragetasche zwischen uns, wobei ich den Reißverschluss der Tasche absichtlich offen lasse, nachdem ich Ronalds schmutziges Notizheft zwischen eine leere Packung Zigaretten und eine alte, gebundene Ausgabe der Fleurs du mal stecke, die er irgendeinem Archivar viel zu günstig abgefeilscht hat, nachdem er ihm mitleidig sein lächerliches übersetzerisches Vorhaben vorgetragen hatte. Karin trinkt und trinkt und ich bedeute ihr, den restlichen kubanischen Rum der fast leeren Flasche in mein Weinglas zu kippen, aus dem wir dann gemeinsam trinken und uns währenddessen über die Geschmacksrichtungen von Matetee unterhalten. Irgendwann hört man Schreie und die Barkeeperin stößt von innen die Klotür auf. Ronald hatte vergessen, seinen Verlobungsring abzunehmen und natürlich hat die Barkeeperin ihm nicht geglaubt, dass er und Manuela schon längst wieder getrennt sind, als sie nach vollzogenem Liebesakt den Ring erblickt und ihm in die Eier getreten hat. Ronald kommt jetzt auch aus dem Klo. Er humpelt. Selbst Schuld, sage ich zu Karin, dass er diesen hässlichen Ring nicht schon längst entsorgt, sondern ihn sich aus Sentimentalität selbst an den Finger gesteckt hat und dort trägt, seit die Manuela ihn hat sitzen lassen. Die Barkeeperin gestikuliert weiter wild und Ronald schlägt ihr einfach mit der Faust mitten ins Gesicht, worauf der ganze erste Tisch an der Klotür die Liköre aus der Hand stellt und Ronald an den Haaren und Armen und dann auch an den Beinen aus der Kneipe zieht und auf den nassen Gehsteig schubst. Ich habe Angst, dass mir Karin jetzt vor Schreck auf die Hose kotzt und versuche, ihren Bauchnabel zu kitzeln. Das soll entspannend wirken, habe ich mal irgendwo gehört, aber eigentlich ist mir jetzt selbst ganz übel und ich muss mich dazu zwingen, dass ich für Ronald Mitleid empfinde, um mich abzulenken, obwohl mir mittlerweile eigentlich alles scheißegal geworden ist. Karin und ich gehen zwei Stunden später zu mir nach Hause, wo sie sich endlich erbricht (in die Badewanne), mir dann auf dem Bett ein Kondom zuwirft und sofort einschläft, bevor sie sich die Hose ganz ausziehen kann. Ich überlege kurz, wie ich die Hose am besten von der Karin runter bekomme, gebe aber auf, weil ich so betrunken bin und übergebe mich ins Waschbecken. Wie Karin mich so angeschaut hat vor dem Einschlafen, da musste ich sofort wieder an die viktorianischen Handelsschiffe denken und wie sie „Somnambul“ ausgesprochen hat. Obwohl ich so müde bin, koche ich jetzt schon Kaffee fürs Frühstück und während der Wasserkocher zischt, setze ich mich mit Ronalds Tasche, die ich als guter Freund natürlich nicht einfach in der Kneipe habe stehen lassen, auf den Balkon an meiner Küche, wo langsam die Sonne aufgeht und dabei vergesse ich den Kaffee und lese Ronalds Übersetzungen. Ich finde sie „radikal“.