Heute möchte ich mit dir übers Erwachsenwerden reden, Selma. Ich habe überlegt, wie ich dieses Phänomen nenne, das mich schon seit langer Zeit begleitet. Ob es ein bestimmtes Wort gibt, das es ausdrückt. Ich glaube, ich nenne es Sorphorie.

Kennst du das, wenn du ständig am denken bist? Wirklich sehr sehr oft? Bitte hör jetzt nicht auf zu lesen, weil du denkst, dass du das schon hundertmal gehört hast. Bitte lies weiter. Mein Denken strengt mich an. Diese Momente, die man genießen sollte – am See in der Sonne sitzen zum Beispiel oder durch den Wald spazieren und die Waldluft einatmen – kann ich nicht genießen. Weil ich nicht wirklich da bin. Verstehst du, was ich meine?

Ich habe keine Angststörung, keine Depression, zumindest keine schwere oder mittelschwere und an einer Zwangsstörung schrappe ich manchmal vorbei, aber das ist es wohl auch nicht ganz. Dann frage ich mich wieder, ob es das Zeitgeistthema ist. Da werde ich dieses Mal nicht im Detail darauf eingehen. Ich will dich nicht langweilen. Aber dass ich eigentlich nicht ins 21. Jahrhundert gehöre, denke ich immer noch. Social Media, Karriere, Sex, sexy sein. Irgendwie helfen mir diese Dinge nicht. Jahrelang habe ich mich an meiner Hülle abgearbeitet.

Da ist noch etwas anderes. Eine innere Aufregung. Das ist diejenige, die ein tiefes Loch in meinen Bauch gräbt. Wie damals, als ich Ninos Hand genommen habe und er sie weggezogen hat. Oder als ich die ganze Nachbarschaft zu meinem selbstchoreografierten Tanz eingeladen habe und sie, die Erwachsenen, nur die Augenbrauen hochgezogen haben. Mein Kopf ist ein ständiger, Selma. Ich bin ihm ausgeliefert.

Vor der Party letzten Samstag bei Flo war mir total schlecht. Mein Herz hat geklopft, sich breit gemacht, die anderen Organe weggedrängt. Kennst du das? Ich bin fünfmal aufs Klo gerannt. Ist das schon die Vorahnung, der erste kleine Riss in der Bauchdecke?

Ich habe noch ein Beispiel. Vielleicht verstehst du dann, was ich meine. Wenn ich am Strand liege, spüre ich die Blicke auf meinem Körper. Ob sie da sind oder nicht. Ich höre die Menschen schnauben, husten, ihre aneinanderklebenden Körperteile quietschen. Und, welche Fehler entdecken die Röntgenblicke der anderen bei mir? Hast du Beispiele für mich, Selma?

Als Kind war ich eine Wasserratte. Ich habe im Meer gebadet, bis meine Lippen blau wurden.

Spaß wird zu Last.

Ich will, dass eine Filmszene wehtut. Dass Elio am Ende von „Call me by your name“ vor dem Feuer sitzt und ihm langsam die Tränen aus seinen traurig glänzenden Augen die schmalen Wangen hinunterlaufen, dass Abschiede mich von innen bluten lassen. Als wäre ich Teil des Abschieds, aber nur als wäre. Geht dir das auch so?

Ehrlich gesagt genieße ich die Zeit mit den meisten Menschen nicht, Selma. Behalte das bitte für dich. Und noch weniger genieße ich sogenannte Unternehmungen mit Menschen. Nicht einmal die, die ich theoretisch mögen sollte. Ich langweile mich im Theater, ich kann es beim Wandern nicht erwarten anzukommen, ohne zu wissen, was ich danach tun will, ich zähle die Gänge auf dem Flohmarkt, um auszurechnen, wann ich endlich durch bin.

Den Nebenjob im Interior Design habe ich übrigens gekündigt. Wahrscheinlich überrascht dich das. Ich war ja extrem motiviert. Am Anfang. Ich wollte einen guten Eindruck machen, habe überlegt wie viele Fragen ich stellen soll, habe mir Gedanken darüber gemacht, ob ich mich sympathisch genug verhalte, dabei gleichzeitig professionell bleibe, wie ich besser besser besser werden kann und irgendwann war plötzlich die Motivation weg. Und dann wollte ich nur noch weg.

Selma, warum habe ich nach jeder Party ein Loch im Bauch? Mit der Zeit wird es kleiner. Das weiß ich mittlerweile. Immerhin. Scham ist das schlimmste Gefühl, das ich kenne. Welches ist deines?

Und weißt du, was lustig ist: Dann kommt plötzlich der Moment, in dem ich in voller Lautstärke „Under pressure“ höre, durch die Wohnung tanze und mich für einen kurzen Moment da fühle.

Ich hatte schon von meinen Freund*innen gesprochen letztes Mal. Erinnerst du dich? Ich habe viele und manchmal bin ich stolz darauf, stolz darauf, tolle Menschen in meinem Leben zu haben, die ich mir ausgesucht habe. Aber Hanna und Alex sind schon nach den ersten fünf Minuten anstrengend. Hanna lässt mich nie ausreden. Ich hasse es, wenn unsere Stimmen sich übereinanderlegen, dann möchte ich sie am liebsten anschreien. Und Alex muss ich alles aus der Nase ziehen. Doch ich tu es nicht.
Aber psst.
Selma, Freundschaft ist eine Aufgabe. Ich bin gut im Einfühlsamsein und im Aufmerksamsein auch. Das erkennen die Menschen, weißt du. Und dann muss ich dieser, meiner Aufgabe auch gerecht werden. Manchmal denke ich, dass das meine Lebensaufgabe ist. So wie andere die Lebensaufgabe haben, Klimaaktivist*in zu sein oder Schauspieler*in oder Mathematiker*in. Sie geben sich für diese Sache auf. Ich gebe mich für Andere auf.

Gestern war ich beim Bäcker. Da hat sich eine Kundin, die neben mir stand, beschwert, ich würde zu laut reden. Was erwarten die Leute denn, wenn Verkäufer*innen und Kund*innen Masken tragen müssen und sich zwischen ihnen zusätzlich eine Plexiglasscheibe befindet?
Ich schreibe dir nun zum zweiunddreißigsten Mal, weil ich diese Dinge niemandem sagen kann. Und Selma, ich werde dir weiter schreiben. Da du nie erwarten wirst, dass ich gut bin im Einfühlsamsein, mich nie einfach unterbrechen wirst und mich nie zurücklassen wirst mit einem Loch im Bauch. Weil du nur eine kleine Schublade in meinem Nachtschrank bist.

Und dann spüre ich plötzlich wieder ein Kribbeln in der Magengrube, kein Loch, ein Kribbeln. Meine Fingerspitzen vibrieren, ich will ein berührendes Buch am Stück weglesen wie „Allein“ von Daniel Schreiber, eine rauschende Party voller magischer Momente besuchen und mich von tiefen Gesprächen ernähren, mit ihnen verschmelzen. Als würde ich gleich platzen und aus mir heraus eine Million bunte Konfetti. Ich will. Ich will. Ich will.

Toll übrigens, dass Sorge und Euphorie weibliche Artikel haben, Selma. Das ist mir gerade aufgefallen. Mal schauen, wann „Sorphorie“ in den Duden aufgenommen wird. Ich werde dir davon erzählen.