Stolperndes
Kopfsteinpflaster

„Ich muss nur noch diese Flasche Wein austrinken“, sagte sie und schwieg für immer. Das war er also, der Moment. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt. Sie hatte ihn sich hunderte Male ausgemalt. Ihn ausgeschmückt in einem mit Prunk verzierten Gemälderahmen, welcher ein sensationelles Bild umringt, das von abertausenden Kunst kennen zu meinenden Gläubigen in einer überteuerten Wanderausstellung gehuldigt wird. Und dann kam der Moment. Und alle Vorstellungen, jener Schmuck und lauter Applaus wichen plötzlich einem Gefühl, dass sie stets versucht hatte zu verdrängen – Ernüchterung. Belanglosigkeit breitete sich in ihr aus und erstaunte sie nicht einmal. Sie nahm sie einfach hin und lies all die Vorstellungen in ihrem Dunst zurück. Doch was hatte sie sich vorgestellt? Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Sie selbst von hinten. Mit geradem Rücken, auf hohen Schuhen. Einen Rollkoffer ziehend über Kopfsteinpflaster. Sie geht. Doch nicht nur. Sie hält ihr Kinn hochgereckt, ihre Lippen fest verschlossen. Stolz trägt sie, leichtfüßig. Klickklack. Klickklack. Polter. Polter. Zielstrebig aus der Stadt heraus. Die Häuser verschwinden. Sie schaut nicht zurück. Nicht wehmütig. Nur wohlwissend, dass sie kann. Und, dass sie wird. Die Vorstellung der Vorstellung hat sie unzählige Male aufgeweckt. In so vielen niederschmetternden Situationen hat sie sie immer weiter ausgeheckt. Und jedes Mal wieder von Neuem – blieb sie stehen. Klack. Klick. Stille. Eine Brücke tat sich vor ihr auf. Sie kannte sie. Sie hatte sie in der Vorstellung gesehen. Doch die Realität – wenn sie das denn war – macht die Brücke nicht minder zum Hindernis als im Traum. Sie blieb stehen. Sie ging nicht zurück, keinen Schritt vor. Doch jetzt, wie sie sich die Vorstellung der Vorstellung vorstellte, wurde ihr klar, dass hier der Fehler liegen musste: Sie sah die Brücke, geht aber nicht darüber. Dabei müsste sie sie einfach überqueren. Doch sie hat so viel in die Vorstellung des Fortgehens gesteckt, so viel in den Abschied, dass sie diesen letzten entscheidenden und unverzichtbaren Schritt einfach vergessen hat. Sie stand noch immer da, der Stolz zerbröckelt von der Erkenntnis: Wissen ist Macht. Doch eine wahrhaft Mächtige, welche das Wissen um ihr Können besitzt, setzt dies in ihrem Tun auch um. Sie wird also erst mächtig, wenn sie aufhört, den Zeitpunkt der Erkenntnis in der Vorstellung zu überidealisieren und stattdessen einfach den Schritt tut und die Brücke überquert. Doch bevor sie diesen Schritt tat, öffnete sie eine weitere Tür von inneren Vorstellungen und fragte sich, was, wenn alles was war, alles was ist und alles noch zu kommende eine endlose Aneinanderreihung von Verlassen und Überqueren ist? Sie schwieg. Und setzte einen Fuß auf die Brücke.