Suerte,
„Und Tschüss“ (1. Kap.)

Liebe Freunde der Literatur!
Ich darf hier also mein Buch vorstellen. Aber halt! Wer bin ich denn? Mein Name ist Frederik, aus Würzburg (eh klar, oder?) und seitdem ich vor vier Jahren eine Autobiografie geschrieben habe, darf ich mich als Autor betiteln. Schon cool. Und da ich solche großartigen Projektideen wie die KLW echt klasse finde, lasse ich mal etwas aus meinem Buch da.

Zur Autobiografie: Nachdem ich 2003 mit 17 mit einer seltenen Erkrankung diagnostiziert wurde und nach und nach immer mehr gesundheitliche Einschränkungen folgten (z. B. vollständiger Verlust des Gehörs, starke Gleichgewichtsschäden, Gesichtslähmung etc.) begann ich notgedrungen mein Leben umzugestalten, anzupassen, versuchen zu leben. Es hat eine Weile gedauert, zu akzeptieren, was ist und ich bin stolz auf das, was ich trotzdem erreicht habe, wie ich gelernt habe mit der Situation umzugehen. Ich begann aufzuschreiben … Im Buch Suerte – oder der Teufelskreis des Glücks geht es genau darum. Ich erzähle einfach von der Welt aus meiner Nische. Mit der Krankheit und ihren Auswirkungen im Hintergrund und der Axt in der Hand, damit ich zurückschlagen kann, wenn sie mal wieder zuschlägt. Hier kann das Buch bestellt werden: www.frederik-suter.editionblaes.de

Sodala. Gebucht! Wow, das fühlt sich groß an. Drei Wochen in Katalonien. Allein. Zu groß? Verlange ich zu viel von mir? Schließlich habe ich ziemliche Einschränkungen, neben der kompletten Ertaubung ist mein Gleichgewicht momentan so schlecht, dass ich im Alltag einen Rollator benutze.

Es war nicht immer so. Ich war sogar mal eine echte Sportskanone. Ich weiß noch, ich war ungefähr sieben, als der örtliche Bolzplatz für fast ein Jahrzehnt mein zweites Zuhause war. Täglich habe ich meine Fußballfreunde der Reihe nach angerufen, um zu fragen, ob sie mitspielen. Manchmal ohne Erfolg, aber das machte nichts. Ich ging einfach hin, traf neue Leute oder schoss ein bisschen aufs Tor. Um sechs Uhr würde ich heimkommen und mich bei meiner Familie beschweren über mein Pech. Wie oft hatte ich den Pfosten oder die Latte getroffen? 22 mal in 15 Minuten. „Verdammt! Echt unglaublich, oder? Alle sind gegen mich!“ Die Welt hatte sich eindeutig gegen mich verschworen!

Heute sind Krankenhäuser mein zweites Zuhause, denn mit 17 wurde bei mir eine Krankheit mit dem komischen Namen „Neurofibromatose Typ 2“ diagnostiziert.

Zuhause, an der Seite des Hauses Richtung Garten, war ein Stück Zaun aus Holz. Dort kletterte ich fast täglich rüber, um den Nachbarsjungen zu besuchen und mit ihm zu spielen, manchmal durfte ich sogar zum Essen bleiben. Er war auch fußballbegeistert, und wo es ging, kickten wir den Ball herum (weil sonst seine Mama zu Recht schimpfte, wenn im Haus gekickt wird) und lieferten uns leidenschaftliche Matches, besonders im Garten. Der Spielstand war nie wichtig. Für mich jedenfalls nicht. Der Spaß, den wir hatten, dafür umso mehr.

Seiner Mutter war aufgefallen, dass etwas mit meinem Gehör nicht stimmte. Ich merkte es auch und es nervte allmählich. Wie immer – beim örtlichen Supermarkt die Stufen runter, aus ein paar Metern Entfernung rief mein Freund mir etwas zu, das ich einfach nicht verstand und immer öfter nachfragen musste. Im Sommerurlaub in Frankreich stellte ich dann fest, dass es noch schlechter wurde. Ich zeigte meinen Eltern auch, dass ich keine gerade Linie mehr laufen konnte. Sie dachten, ich mache Spaß. Unglücklicherweise war es auch die Zeit, in der ich den Alkohol entdeckte. Wenn ich abends durch die Dunkelheit lief, dabei hin- und her schaukelte und sogar mal im Gebüsch des Campingplatzes landete, war mit dem Alkohol schnell der Schuldige ausgemacht. Schon sehr lustig damals. Stell dir meine Eltern vor: Sie sitzen am Campingtisch und schlürfen gemütlich ihren Wein, als die anderen Kinder ihren Sohnemann nach zwei Radlern heimbringen und aufgeregt vom Ausflug ins Gebüsch erzählen …

Heute, wo das Gleichgewicht noch schlechter ist, gehören Kommentare wie „sieht aus wie ein Besoffener …” schon dazu. Oft fang ich sogar selber mit solchen Witzen an. Es bringt die Leute zum Lachen, ich lach mit, nicht nur, weil das Gelächter der anderen ansteckt, sondern auch, weil ich einfach von Herzen darüber lachen muss. Das muss echt lustig aussehen! Außerdem löst es die Spannung. Manchmal ist es für mich natürlich nicht ganz so amüsant, aber an Ort und Stelle sehe ich darüber hinweg und lache mich kaputt, vor allem, wenn ich die Gesichter der Leute sehe oder mir deren Gedanken vorstelle. Lachen über mich selbst und das Bewusstsein, dass etwas mit mir nicht stimmt, hat sich als meine beste Medizin entwickelt und hilft mir, Dinge lockerer zu sehen. Mir ist es eins der wichtigsten Dinge, meinen Humor und meine Selbstironie zu erhalten. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich zu wenig ernst bin, enden doch viele Situationen in einem Witz. Zum Beispiel, wenn meine Mutter hoffnungsvoll mit heruntergelassenem Kiefer mich ernsthaft fragt, ob ich hören kann, wenn ich anfange zu tanzen, während Musik läuft, oder wenn das Telefon klingelt und ich blitzschnell hinschaue (sie weiß nicht, dass ich auf irgendeinem Display abgelesen habe, dass da was ist), ja, dann krieg’ ich mich nicht mehr ein vor Lachen, und ich mach das bei jeder Gelegenheit. Tschuldigung, Mami!

Wenn ich über solche Dinge nicht mehr lachen kann, hey dann stimmt echt was nicht mit mir. In so einer Situation war ich auch schon, aber das ist eine andere Geschichte …

Zurück in Frankreich, nahmen wir also die Dinge nicht so ernst, ich begann sogar selbst zu glauben, es läge am Alkohol. Auf jeden Fall half es mir dabei, den Betrunkenen zu spielen. Trotzdem spürte ich, dass da was nicht stimmte. Mit meinen 16 Jahren kümmerte mich das jedoch nicht, ich war eher daran interessiert, Mädchen kennenzulernen. Aber wo passten die Probleme mit dem Hören hin? Aber wiederum nicht so wichtig – Mami mit ihren Theorien über Probleme mit der Gesundheit war schnell mit einer temporären Diagnose: Manchmal entstehen solche Klümpchen aus Ohrenschmalz. Damit gaben wir uns ungefähr ein Jahr zufrieden, solange, bis es nicht besser, sondern schlechter wurde. Wir gingen zum HNO-Arzt. Es war etwas überraschend, zu erfahren, dass in den Ohren alles in Ordnung sei. Der Hörtest jedoch zeigte tatsächlich eine Minderung des Hörvermögens. Das hieß, das Problem blieb also vorerst bestehen. „Na toll! Haust du blödes Problem schon ab!“, dachte ich mir. Also wurden wir zum CT geschickt, um dem Problem auf den Grund zu gehen. Dort sprach man mit mir im Vertrauen – ohne die Anwesenheit meiner Mutter. Ich verstand nur Fachchinesisch und der Bericht wurde an meinen Hausarzt übermittelt. Wir ließen die Dinge also erst mal ruhen und ich fuhr mit meinem Leben fort. Monate später war ich mitten in den Prüfungen für den Realschulabschluss. Mein Hausarzt sprach mich nie auf den Brief an, in dem stand, dass eine mögliche Erkrankung abgeklärt werden sollte, wenn ich mal in der Praxis war. Heute wissen wir, dass ich wertvolle Zeit verloren habe. Ohne, dass ich es ahnte, hatten die Tumore im Kopf Zeit zum Wachsen.

Damals, nichts ahnend, woher die Probleme des schlechteren Hörens kamen, war ich in der Hörprüfung in Englisch sehr erfreut darüber, als ich einen vorderen Platz neben den Lautsprechern zugewiesen bekam. Für andere war das ein Witz, denn sie wussten, dass ich mit Englisch aufgewachsen war. Scheiß doch auf die …

Ich wollte jedoch das Abitur erreichen und rechnete nach den Prüfungen damit, das nächste Schuljahr an einem Gymnasium fortzusetzen. Mit der Mittleren Reife in der Tasche ging es wieder in die Sommerferien nach England mit dem Wohnmobil und mein Zustand wurde nicht besser. Ich habe sogar erfahren, dass mein Vater mein Zelt nach leeren Flaschen durchsuchte, doch nur schmutzige Wäsche fand. Ich kann mich auch noch an ein paar unsanfte Fahrten mit dem Moped inklusive erneuter Landung im Gebüsch erinnern. Für nach dem Urlaub legten wir fest, ein CT zu machen. Und dann ging es los. Wir gingen zur Neurologie, um herauszufinden, was die Radiologen beim CT gefunden haben könnten und ließen ein noch genaueres MRT machen. Als wir erfuhren, dass Tumore die Ursache für meine Probleme waren, war meine Mutter alarmiert. Ich war es nicht so sehr. Stell dir einen 16-jährigen vor, der gerade einen richtungsweisenden Schritt in die Zukunft geht. Und die Mädchen nicht vergessen! So war das also, als wir die Diagnose erhielten. Neuro-was? Wir hatten absolut keine Ahnung und sind blind dem Rat der Ärzte gefolgt. Wie im falschen Film begann schon das mulmige Gefühl, als wir uns dem Eingang der Neurochirurgie näherten. Der einfache Satz vom anonymen Aufnahmearzt „Hm, was tun?“ riss uns aus den rasenden Gedanken und beruhigte nicht unbedingt. Schon das Wort „Tumor“ war Angst einflößend, fremd und schockierend. Tausend Fragen schossen durch den Kopf, besonders betroffen waren meine Eltern, die sich wohl ein bisschen informiert hatten. Keiner kannte dieses Neurodings … Was ist nur mit ihm los? Sogar die Ärzte wissen nicht weiter? Ratlosigkeit machte sich breit. Angst.

Heute wissen wir, mit NF2 ist es immer das Gleiche: Erst im Nachhinein weiß man es besser. Was wäre, wenn wir uns besseren Wissens nicht auf die sich oft selbst überschätzenden Herren in Weiß eingelassen hätten und direkt zum Profi gegangen wären? Wäre mein Leben heute ein ganz anderes? In den folgenden Jahren lernten wir viel mehr über diese Erkrankung. Sie ist sehr selten und Tumore wachsen im gesamten zentralen Nervensystem. Typisch dafür sind zwei Tumore auf den Hörnerven beider Seiten, was oft irgendwann zur kompletten Ertaubung, Schädigung des Gleichgewichts, der Gesichtsnerven und anderen Lähmungen führt. Also dort, wo sich die Zentrale aller Organe befindet und somit alle möglichen Funktionen des Körpers. Tumore in der Wirbelsäule und woanders können genauso gefährlich werden. Sie müssen deshalb regelmäßig kontrolliert werden, um Wachstumsveränderungen zu beobachten. Die Berücksichtigung der Symptome und Patientenbefinden und Beobachtungen des Patienten sind natürlich auch wichtig für eine Entscheidung der richtigen Therapie, meist Entfernung oder Verkleinerung des Tumors durch Operation. Da es sich um einen Gendefekt handelt, ist bislang keine Heilung möglich. In Zukunft geht da vielleicht was, aber jetzt noch nicht.

Der Weg dorthin ist noch steinig. Nur eine Handvoll Chirurgen ist kompetent genug und kennt sich mit der Erkrankung aus. Sie werden oft mit großen Herausforderungen konfrontiert, denn nicht selten wird eine Operation zwar als erfolgreich deklariert, aber der Patient erlebt Verschlimmerungen, und während des Krankheitsverlaufs mindert sich die Lebensqualität häufig. Die Symptome eines jeden einzelnen Patienten sind komplett unterschiedlich, Vergleiche also zwecklos. „Ha, an der Stelle hatte ich auch einen Tumor“, sagt oft genauso viel aus wie der Blick in eine Glaskugel. Bei jedem Patienten kann sich die Krankheit schnell, mäßig oder langsam entwickeln. Niemand kann das vorhersagen. Ohne all dies zu wissen, und mit Ärzten, die unfähig waren, uns mehr zu sagen, saßen wir also da und nahmen als größte Sorge mit, dass „die Lebenserwartung eventuell geringer ist. Mir machte das nicht viel aus, solange endlich das blöde Gehör wieder normal sein würde. Ich war mit den Gedanken sowieso woanders und es interessierte mich auch nicht sonderlich. Mich interessierte nur, dass in zwei Wochen eine Operation anstand mit einer Chance von 50:50, mein Gehör zu retten. „Wird schon werden“, dachte ich. Inzwischen bin ich realistischer geworden. Nach zwei Wochen Warten war es endlich soweit. Ich packte meine Sachen fürs Krankenhaus, die Schwestern auf der Station waren echt lieb.

Heute, nachdem eine anstehende OP inzwischen schon gang und gäbe ist, erinnert es mich jedes Mal an Urlaub, im Gepäck nur mehr Trainingsanzüge, die sind halt leicht anzuziehen. Schon bizarr, wie die Leute mit ihren Koffern und Taschen ankommen. Was allerdings fehlt, ist die Vorfreude, ein Lächeln ist selten zu sehen. Nach ein paar langweiligen Tests wurde es zunehmend ernster, aber ich bewahrte stets meine Ruhe. Am 22. September 2003 wurde ich aus dem Zimmer geschoben, rein in den OP-Saal. Dieses Datum ist für mich inzwischen fest in meinem Wesen verankert und trägt so viele Bedeutungen mit sich. Vor allem Abschied. Aber auch Neubeginn.

Es rührt mich immer wieder zu Tränen, wenn ich überlege, wie sich die Dinge seither geändert haben, insbesondere, wenn ich daran denke, was fort ist. Egal, wie ich heute damit klarkomme, der Tag teilt nun mal mein Leben in ein Vorher und Nachher. Wie hätte ich das damals ahnen können? Und jeden Tag könnte ich weinen. Aber ich bin auch stolz. Stolz darauf, woher ich gekommen bin. Darauf, wie ich entschieden habe, mein Schicksal anzunehmen, und anstatt dagegen anzukämpfen, es mit in den Kampf zu nehmen. Damals hatte ich nicht die Chance, mich zu verabschieden, da ich den Abschied nicht wahrgenommen habe. Vielleicht war es besser so. Ich nahm auch nicht wahr, wie ich aus meinem Zimmer geschoben wurde – ich hatte meine Narkose schon bekommen. Als ich aufwachte, war mein Leben auf den Kopf gestellt, aber wieder nahm ich das nicht sofort wahr …