Erinnerungen kleben an jedem Zentimeter meiner Haut. Unter der Dusche schrubbe ich mit dem Waschlappen, kratze mit seiner rauen Seite über das auf meiner Haut wuselnde Gedächtnis – aber es lässt sich nicht abwaschen. Es zieht sich zurück in meine Muskeln, versteckt sich hinter dem Prasseln des heißen Wassers und dem Waschlappenkratzen. Aber schon wenn sich die roten Striemen des Schrubbens in der Hitzerötung meiner Haut verlieren, kommen die Erinnerungen zurück:
Da ist das weiche Pochen, dass die Handfläche füllt. Es ist zum ersten Mal bei der Arbeit aufgetreten. Als du einer alten Dame hilfst, ihr medizinisches Korselett anzuziehen. Du musst ihre rechte Brust (die linke gibt es nicht mehr) in das Körbchen schieben. Das weiche, warme Gewicht faltet sich in deiner hohlen Hand zusammen. Es pocht noch wochenlang ununterbrochen in deiner Handfläche, bis es sich irgendwann wenigstens ab und zu zurückzieht. Dann im Wechsel mit anderen Erinnerungen an die Oberfläche tritt und wieder verschwindet.
Besonders schlimm ist dieses Ruckeln, das immer wieder an der Wirbel- säule entlang reisst. Es geht ursprünglich von einem harten Straßenbahnsitz aus: Ein kurzes hin und her Wackeln, du stößt dich am Ellbogen deines Sitznachbarn und der Plastikverkleidung auf der anderen Seite. Noch bevor du dich fragst, was passiert ist, hört das Ruckeln einfach auf. Im Nachhinein denkst du, du hättest es doch ahnen müssen. Aber das tust du in dem Moment nicht, in deinem Kopf herrscht Leere. Erst als der Straßenbahnfahrer eine Durchsage macht, mit erstickter Stimme von verzögerter Weiterfahrt redet und von Personenschaden, formt sich in der Leere deines Kopfes ein Entsetzen. Du verstehst, dass das Ruckeln in deinem Körper das Sterben eines Menschens war. Du weißt noch nicht, wem das Sterben gehörte; deshalb denkst du nicht an den Bräutigam und das schweißfeuchte Rau seines Hochzeitsanzugs im Juli.
Du denkst stattdessen plötzlich an das Vibrieren deiner Stirn auf der kal- ten, harten Scheibe eines anderen Zuges – und an den toten Bruder der Frau, die vor dir im Viererabteil sitzt und sich mit einem jungen Mann unterhält. Du willst schlafen, aber die beiden sind ein so ungewöhnliches Paar, dass sie dich wach halten: Die Frau, sie wirkt freundlich, etwas affektiert, ist nicht mehr jung und noch nicht wirklich alt. Und ein junger Mann, mit ordentlichem, schwarzen Bart, dessen Sätze von einem türkischen Akzent durchwoben sind. Die Frau findet den Zug dreckig, natürlich, aber fährt trotzdem lieber Bahn als Auto. Der Mann pflichtet ihr bei.
Du nimmst die Stirn von der Scheibe. Drückst deinen Hinterkopf in den harten Regionalbahnsitz, schließt die Augen. Vielleicht kannst du ja doch noch schlafen – aber deine Nase ist so kalt – vor deinen Ohren spannt sich die ungewöhnliche Freundschaft weiter auf:
Die Bahn sei ja doch so oft verspätet.
Der Mann stimmt ihr zu.
Die Frau erzählt: Bei ihrer letzten großen Verspätung hat sie zum ersten Mal einen Menschen ohne Kopf gesehen. (Sie sagt das, als wäre das etwas, was früher oder später auf jeden einmal zukommt.) Sie war da nicht im Zug, sondern am Bahnsteig, und ein Polizist kam direkt auf sie und ihren Mann zu. Heute gebe es nicht viel wegzuräumen, hätte er gesagt. Die Frau schaute in die Richtung, aus der der Polizist gekommen war. „Tu’s nicht, guck weg!“, habe ihr Mann noch gerufen, aber da lag er schon in ihren Augen. Ein Körper und links daneben ein Kopf.
(Ob sie das Gesicht gesehen hat, fragst du dich jäh und legst eine Hand auf deine Nase, um sie zu wärmen.)
„Echt?“, fragt der Mann.
„Ja”, sagt die Frau. Und dann weiter: „Ich versteh’s nicht. Mein einer Bru- der hat auch Selbstmord begangen, wenn man sowas macht, ist man wirklich am Ende, aber sich vor den Zug werfen, da leiden so viele Leute drunter …“
Du versuchst es dir bequemer zu machen, futschelst dabei an deinem Anorak entlang und bekommst Gänsehaut. Niemand verliert ein Wort über den toten Bruder. Er ist jetzt einfach da, hat sich zu der fremden geköpften Person gesellt.
Und jetzt, viele Monate später in einer Straßenbahn, gesellt sich noch das Ruckeln in deinem Körper dazu, von dem du lernen wirst, dass es zu dem Bräutigam im feuchten, rauen Julianzug gehört.
Die Frau damals im Zug redet weiter: „Aber es war auch ganz witzig, naja, witzig … Da hat ein 16 jähriger seiner Mutter am Telefon zu erklären versucht, warum er nicht nach Hause kann und auf einmal ruft er ‚erklären Sie meiner Mutter was hier los ist, die glaubt mir nicht‘ und drückt meinem Mann sein Telefon in die Hand. Mein Mann hat dann das Telefon genommen und die Situation erklärt, also, es hat ein Selbstmord stattgefunden und so weiter. Wahrscheinlich hat der Sohn schon öfter gelogen.“ Die Frau hält inne.
Der Mann hakt ein: „Ja, Selbstmord… Kennst du die Brücke in Stadthagen?“
„Ja, da haben sich vor ein paar Jahren auch öfter Leute runtergestürzt. Da ist ja jetzt das Geländer höher und alles.“
Der Mann beschreibt eine Straße im Ort – die Frau kennt die Straße, sie geht da jeden Tag mit ihrem Hund Peppi spazieren.
„Aber nicht nachts, oder?“, fragt der Mann entsetzt. „Da gibt es Ratten so groß wie Katzen! Und einmal hat es gebrannt.“ Da habe der Mann Polizei und Feuerwehr gerufen, aber die hätten ihm nicht geglaubt. Seien nicht gekommen, aber haben ihm mit einer Anzeige gedroht, weil er einfach so anrufen würde.
„Wenn es Ratten gibt, muss man das der Stadt melden!“
„Ja, wo?“ Der Mann klingt ehrlich interessiert. Rattenfund, Feuer, irgendwann muss einem einer glauben.
„Ich überlege gerade.“ Die Frau denkt lange nach.
Der Mann sagt: „Und vor ein paar Jahren im Juli ist in dem roten Haus in der Straße auch jemand vom Dach gesprungen.“
Vor ein paar Jahren im Juli, da war auch die Hochzeit des Bräutigams, der jetzt tot ist. Du kanntest das Brautpaar eigentlich gar nicht, warst nur als Plus-One einer Freundin dabei. Der Bräutigam hat dich flüchtig umarmt, wie man vielleicht viele Leute an seinem Hochzeitstag umarmt, die man nicht kennt. Sein Anzug ist schweißfeucht und rau, und als er sich nach der Umarmung wieder aufrichtet, streift seine Schulter dein Kinn. Das Schulterpolster des Anzugs steuert ein wenig Weichheit bei und gibt nach, aber der raue Anzugstoff drückt sich in winzigen Caros auf die Unterseite deines Kinns und steigt dort noch über sich selbst, als du seine Braut umarmst. Du suchst ihren Körper unter dem Tüll in eurer Flüchtigkeit, findest ihn nicht und ziehst schnell weiter. Schiebst dann nochmal zwanzig Euro mehr in die Glückwunschkarte bevor du sie auf den Geschenketisch legst. Du willst jetzt unbedingt, dass die Kosten der fremden Gästin komplett gedeckt sind.
Die Braut siehst du ein paar Monate später wieder. Bei deiner Arbeit. Da grüßt sie dich wie eine alte Freundin, du bist ja auf ihren Hochzeitsfotos. Dann zieht sie ihre Hose aus. Du zeigst auf einen Stuhl, seine Oberfläche ist aus Kunstleder, glatt mit aufgerauten Stellen von den sich ewig wiederholenden Desinfektionen. Sie setzt sich. Du kniest dich vor sie auf den Boden, das Maßband schon in der Hand. Du bittest sie auf die Stuhlkante vorzurücken, „so dass dein Knie ungefähr im rechten Winkel steht.“ Der Stuhl gibt ein feuchtes Atmen von sich, als er ihre nackte Haut kurz frei gibt. Du machst dich an die Arbeit, schreibst noch ihren Namen auf das Maßblatt für die Schwangerschafts-Kompressionsstrumpfhose, dabei schielst du heimlich auf das rote Rezept vom Arzt. Du warst auf ihrer Hochzeit, du musst ihren Namen richtig schreiben. Dann nimmst du das kalte, klebrige Maßband, für dessen Kühle du dich jedes Mal wieder entschuldigst, wenn du es um eine neue Stelle ihres Beines schlingst. Deine Hände sind so geübt, dass sie die Haut der Kundin, ehemals Braut, kaum berühren. Nur an ihren Oberschenkeln, als das Maßband etwas in dem angespannten Fett verschwindet, verschwinden deine Finger mit, für einen kurzen Moment, wie im Tüll des Kleides. Aber dieses Mal findest du die Grenzen ihres Körpers, das Maß, auf das er gepresst werden will. Dann hast du alles. Du nimmst das Maßblatt und gehst, tippst mit der schmierigen Kullispitze die Maße der Vergleichstabelle an und holst dann die richtige Strumpfhose. Sie ist nur in schwarz vorrätig. Es ist gar nicht so einfach so eine Strumpfhose anzuziehen. Man muss den Leuten zeigen, wie das geht, also ziehst du sie ihr an. Ihre Haut ist weich und nicht schuppig, wie die vieler deiner anderen Kunden. Mehlig. Mehlig müsste schuppige Haut eigentlich heißen. Du sammelst die überschüssige Feinheit des Stoffes zwischen deinen Fingern, machst sie zu kleinen Wülsten und schiebst sie in Stufen nach oben. Es gibt einen leisen Knall, jedesmal, wenn sie dir entgleitet. Als die Strumpfhose oben ist, fährst du noch einmal mit den Handflächen über die Beine, du findest keine Falten im Stoff. Er ist kalt, weich und ebenmäßig abweisend. Du weißt, dass sich die Hitze zwischen Strumpfhose und Haut aufstauen wird. Sie ist schwarz. Aber die Braut, die Kundin, die Freundin der Freundin, die baldige Mutter und spätere Witwe, möchte ein zweites, sandfarbenes Paar. (Sie nennt es hautfarben.) Du brauchst ihre Telefonnummer damit du anrufen kannst, wenn das Paar da ist. Sie entschuldigt sich, sie hat gerade ihr Handy verloren, kennt ihre Übergangsnummer noch nicht, und zieht ein altes Nokia aus der Tasche. Sie weiß nicht, wo sie ihre eigene Nummer finden kann. Vielleicht ruft sie einfach kurz an, dann kannst du ihre Nummer vom Display abschreiben: Der Simpsons- Klingelton fließt in Tutlauten aus dem Festnetztelefon in deiner Hand und du schreibst die Zahlen ab. Die Frau hält hilflos ihr kleines Nokia und wartet.
Du hattest auch mal so eins. In schwarz. Aber die fettigen Tasten aus weichem Plastik waren irgendwann milchig weiß geworden. Auf der Fünfer-Taste war ein winziger Plastikknubbel, genug um einen angenehmen Widerstand auf der Fingerkuppe zu erzeugen und immer wieder blind zurück zur Fünf zu finden. Fünf oder jkl. Die Tasten des alten Handys haben leise geknackt, wenn man sie drückte.
Das Knacken gefällt deinem Neffen. Er ist erst zwei und du willst, dass er sich freut. Also aktivierst du die Tastensperre und erlaubst ihm, mit deinem Handy zu spielen. Das Knacken vieler zufälliger Tasten. Ein schweigendes zufriedenes Kleinkind. Der Zufall will, dass dein Neffe drei mal die Null und dann den grünen Hörer drückt. Auf einmal tönt eine ernste Stimme durch den Lautsprecher: „Polizeizentrale Laupheim“. Du entreißt deinem Neffen das Handy und erklärst dem Polizisten, dass der Anruf versehentlich geschehen ist. Du entschuldigst dich, er legt auf, dein Neffe weint.
Hättest du in deinem akzentfreien Deutsch und mit deinem deutschen Namen nicht gesagt, dass es ein versehentlicher Anruf war, sondern, dass du die Polizei brauchst, für irgendwas, weil ein rotes Haus brennt oder jemand von einer Brücke springt, sie wäre gekommen. Dein Neffe weint immer noch. Die blecherne Stimme aus dem Handy hat ihn erschrocken. Er weiß schon, dass man nicht einfach bei der Polizei anrufen darf. Du streichelst über seine verschwitzten Locken. Nimmst ihn auf den Arm, klebrige Hände an deinem Hals und so viel schwere Verantwortung deren Ende an zwei Füßen kurz über deinem Knie baumelt. Erst als seine Mutter ein paar Minuten später kommt und dir die schwere, warme, von geruchlosem Schweiß überzogene Verantwortung abnimmt und sie hin und her wiegt, hört dein Neffe auf zu weinen.