Von Fußbällen, Teddys und Briefen

Sophia hat echt ein Problem. Obwohl sie steinalt ist, verdient sie ihr Geld immer noch mit Teddybären.

„Du gehst dann ja runter zur Postbotin, wenn sie am Mittag klingelt, Liebling?“, sagt sie an den Tagen, wo mit der Post neue Stoffe, Knöpfe und Füllwatte für ihre Bastelstube ankommen, zu mir. Ich, ich bin die Tochter von Sophia, ich, das heißt Tessa. Das Haus von Sophia und mir liegt auf dem Hügel, mit schönem Blick über die Stadt, und weil es so viele Straßenzüge gibt, die die Postbotin noch vor unserem Mehrparteienhaus mit dem gelben Rad abfahren muss, kommt sie immer genau um Viertel vor zwei bei uns an. Sie kommt an, schlägt die gelbe Abdeckplane über Briefen und Päckchen auf dem Gepäckträger zur Seite und geht die Adressat*innen durch.

„Khasholi“, sagt sie dann und reicht mir ein kleines Paket, das ich pflichtbewusst entgegennehme und oben zu den Krümeln vom Frühstück auf den Esstisch lege. Sophia, die ich noch nie ‚Mama‘ genannt habe, weil sie mir das so beigebracht hat, ist bei der Postbotin immer ein wenig mulmig zumute. Die Botin hat nämlich kurze Haare und mal eine lila, mal eine grüne Strähne, und sie ist im Vergleich zu Sophia sehr muskulös und flach. „Ich glaube, sie steht auf Frauen“, sagt Sophia immer nachdem sie mich angewiesen hat, wirklich nur die Post in Empfang zu nehmen und wieder in den dritten Stock hochzusteigen. Ich weiß zwar nicht, was sie damit meint, aber ich mag es, wie die Postbotin mit ihren starken Beinen alle Straßen der Umgebung entlangfährt und immer um Punkt Viertel vor zwei bei unserem Gebäude ankommt.

Wenn ich mittags die Tür aufschließe, meine Jacke zu Boden rutschen lasse und Nudeln oder Reis in der Mikrowelle aufwärme, sehe ich auf jeden Fall durch das Küchenfenster der Postbotin dabei zu, wie sie sich langsam zu uns hochkämpft und sie ist dann wie eine Begleiterin meiner mittaglichen Essensroutine, auf die ich zählen kann. Sonst ist es in unserem Leben ja ziemlich ruhig geworden.

Heute ist so ein Tag, an dem Sophia nach der Arbeit noch zu Großvater geht, der im Altenheim liegt und mittags Ausgang hat. Ausgang ist für die alten Leute wie Geburtstagfeiern oder Fußballspielen, sagt Sophia; es ist auf jeden Fall etwas sehr Schönes, worüber sich Großvater freut. Ich sitze in der Küche, nachdem ich der Postbotin ein Päckchen abgenommen habe, und trinke Apfelsaft aus einem Strohhalm. Zwar wollte ich im Laden das Bambusröhrchen mit den weißen Streifen, aber Sophia meinte, dass wir das Geld dafür nicht hätten. Komischerweise antwortete sie diesmal nicht, als ich mich beschwerte, „Marcs Eltern haben den ihm aber auch gekauft“. Sie bastelte mir gestern auch keinen weiteren Papierkranich aus altem Zeitungspapier, den ich zu dem Mobilé über dem Esstisch hängen könnte. Als ich zu dem Päckchen mit den Teddy-Stoffen neben mir blicke, nehme ich innerlich zurück, das Sophia echt ein Problem hat. Eigentlich ist sie ziemlich in Ordnung. Und sie verdient ihr Geld nicht nur mit Teddybären, sondern geht auch vormittags in ein Büro, mit schwarzer Hose und weißem Oberteil, wie Marcs Eltern. Die Teddys verkauft sie nur im Internet, und weil kaum jemand von meinen Freunden davon weiß, ist es mir auch nicht so peinlich.

Während ich mit dem Plastik in meinem Apfelsaft rühre, denke ich über Samir nach und darüber, dass er mit seiner neuen Freundin in Hamburg lebt. Samir vermisse ich ein bisschen, klar, er ist mein Vater, aber über Tanias Verschwinden komme ich einfach nicht hinweg. Meine große Schwester sollte mit ihm leben, entschieden Samir und Sophia vor einem Jahr, ich bei Sophia bleiben. Es stimmt, dass Tania immer schon an Samir hing, und mit seiner Freundin kommt sie auch ganz gut klar. Das hat sie zumindest bei den zwei Malen gesagt, als ich sie seit der Trennung gesehen habe, an Weihnachten und als ich sie und Samir besuchen durfte. Wir schreiben uns auch auf WhatsApp und rufen uns jeden zweiten Abend an, aber wir lesen uns nicht mehr heimlich nachts Jack London und Robert Louis Stevenson vor, im Bad putze ich meine Zähne ganz alleine und Tanias schöne T-Shirts, die ihr zu klein geworden sind, gehen jetzt nicht mehr an mich sondern an Oxfam. Heute, wo Sophia mit Großvater im Rollstuhl Runden dreht, fühlt es sich besonders schlimm an.

grüße aus dem süden, miss yu, schreibe ich an Tania zu einem Bild von meinem Apfelsaft, in den ich noch einen knallorangenen Strohhalm dazu stecke, weil das Bild wirkmächtiger ist mit zwei Strohhalmen als mit einem.

Im Fernsehen laufen ein Krimi, eine animierte Kinderserie und ein Nachrichtenprogramm. Bei „Rote Rosen“ bleibe ich kurz hängen. Es gibt rote Lippen, weiche Haare, einen Blumenladen und ein Mädchen so alt wie ich, die im Rollstuhl sitzt. Wenn sie lacht, macht sie den Mund so weit auf, dass man ihr Zahnfleisch über den Schneidezähnen sieht. Ich halte mir die spiegelnde Smartphone-Oberfläche vors Gesicht und versuche aus Spaß, ebenso breit zu lachen. Es sieht aber ganz schön bescheuert aus, weil etwas Schwarzes vom Mittagessen zwischen meinem Schneide- und Eckzahn hängt.

„Tessa.“ Sophia steht über mir und streicht mir über die Backe.
„Tessa, es ist schon fast vier.“

Die Postbotin ist auf einem Dromedar den Hügel hochgekommen, hat mir ein in Geschenkpapier eingewickeltes, rundes Päckchen zugeworfen und mir „Howdy“ zugerufen. Graue Spuren an der Decke, die Schatten der Topfpflanzen am Fenster tanzen an der gegenüberliegenden Wand. Ich brauche einen Moment, um wach zu werden.

„Tschuldige, vorhin kam Rote Rosen“, sage ich, als Sophia mit hochgezogenen Brauen den Fernseher abstellt.

„Aber Liebling, davon sterben deine jungen Gehirnzellen.“ Ich kann nichts erwidern, bin noch zu müde. Jetzt kommen mir auch noch die Hausaufgaben für den nächsten Tag in den Sinn und am liebsten würde ich wieder zum Dromedar und dem runden Päckchen zurück.

„Auf dem Tisch liegt das Bastel-Kit“, sage ich stattdessen, „hab’s diesmal auch noch nicht aufgemacht.“

Sophia läuft zwischen Bad und Schlafzimmer hin und her, ich höre ihre Ohrringe auf die Ablage klacken, Wasser laufen, das Handtuch gegen die Heizung schlagen. Als sie zurück in die Küche kommt, sitze ich am Esstisch und breite mein Deutschheft aus. Heute sollen wir uns eine Geschichte ausdenken zum Thema „Eine Reise mit einem Fremden“. Dazu gibt es die Reizwörter „Lachs, Motorradhelm, Picknick“.

Sophia schneidet das Päckchen auf und sagt „Wollen wir doch mal sehen“.

Den Rest des Tages sitzt sie nähend auf dem Sofa, während ich meinen Traum von vorhin zu einer abenteuerlichen Reise umbaue. Die Postbotin nenne ich Rita, aus dem Dromedar wird ein riesiges, dunkeltürkisenes Motorrad, das Rita und mich zu einem üppigen Picknick in den Bergen fährt.

Ich mache hinten zu, als Lena den Gegenangriff startet und mit Nico schnell hin und her passt. Als sie bei mir angelangt sind, stelle ich den Fuß im richtigen Moment dazwischen, fange den Ball ab und lege zum Konter vor. Als Abwehrspielerin bin ich „eine Brandschutzmauer“, wie unser Trainer sagt.

Dass Jungs und Mädchen in meinem Alter noch zusammen im Fußballverein sind, finde ich gut. Ich wüsste nicht, ob Marc und die anderen mich sonst so selbstverständlich auch in den Schulpausen bei sich mitspielen lassen würden. Und weil ich durfte, durften auch Lena, Ayleen und Kim. Wobei wir es auch nicht einfach hingenommen hätten, wären wir abgewiesen worden. Schließlich sind wir im Jahrhundert der Frau, und ganz abgesehen davon kann jedes Team Top-Spielerinnen wie uns gebrauchen. Ayleen trifft fast in jeder Pause, auf ihre Schusskraft bin ich ganz schön neidisch.

Der Ball fliegt bogenförmig und prallt vom Metallstab der Sonnenuhr an der Schulaußenwand ab. Er fliegt schnell zurück und trifft Nico im Bauch. Er passt den Ball ab und krümmt sich. Wir fragen ihn, ob alles okay ist, er winkt ab und joggt weiter in Richtung Tor.

Am Ende der Pause sehe ich mir die aufgeschnittene halbe Sonne um den Stab genauer an; gelb, orange, rot gehen langsam ineinander über, die Farbe ist von den Jahren ausgebleicht. Die Wand drum herum ist dreckig, eine vormalige Kletterpflanze hat schwarze Flecken hinterlassen. Sie sind gerade so angeordnet, dass es aussieht, als seien sie schwarze Löcher oder Planeten, die die Sonne umkreisen. Das Ganze wird jetzt halb von der Vormittagssonne erleuchtet, der Schatten des Stabs fällt zwischen X und XI, was glaube ich keinem weiterhelfen würde, wenn er gerade mal nach der Uhrzeit schauen müsste. Ich freue mich trotzdem für die halbe Schulwand-Sonne, dass sie während der Unterrichtszeit nicht ganz so allein auf den traurigen Hof und den Zement gucken muss, sondern noch Sterne und Planeten um sich hat.

Marc wirft mir den Ball in die Seite. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, schaue mich ärgerlich um und sehe ihn feixen.

„Na warte!“ Ich renne ihm hinterher, den Ball unterm Arm, seinen Rücken anvisierend.

Die Aufsicht sieht mich kopfschüttelnd an, als der Ball seinen Hintern trifft und wir uns lachend den Gang entlangjagen.

Am Mittag gibt es Gemüseauflauf. Sophia hat sich beeilt, nach der Arbeit vor mir zuhause zu sein, um Nudeln und Brokkoli zu kochen. Der Käse zieht lange Fäden von meiner Gabel, ich gucke durch sie durch aus dem Fenster. Die Kraniche drehen ihre Schwänze im Luftzug.

„Ein bisschen traurig bin ich.“
„Warum das denn?“
„Tania hat mich gestern nicht angerufen und auch nicht auf meine Nachrichten reagiert.“
„Sie meldet sich sicher bald bei dir.“
„Weiß nicht.“

Sophia erzählt mir von den Kirschblüten vor dem Altenheim, die im letzten Stadium vor der Verwandlung in Früchte sind und deren Duft Großvater minutenlang inhaliert hat. „Du hättest mal die Gesichter der älteren Damen im Park sehen sollen!“

Unten in der steilen Straße, die zu unserem Haus hinaufführt, sehe ich die Postbotin heraufstrampeln. Dann zeigt Sophia mir den Bären, den sie genäht hat. Sie erzählt mir von der neuen Idee, die sie hat, Wörter unter die beiden Tatzen zu sticken. Unter einer steht bereits ‚Zufriedenh‘.

„Der Bär sieht aus wie aus einer besseren Welt“, sage ich. Sophia schaut auf und zieht mich an sich. Ich sitze noch auf dem Stuhl und inhaliere jetzt den typischen Sophia-Geruch. Heute mischt sich ein wenig Brokkoli dazu.

„Du verdienst die beste aller Welten, Tessa.“ Als ich den zweiten Teller abgewaschen und Sophia das letzte ‚t‘ von ‚Zufriedenheit‘ angestickt hat, klingelt es in unserer Wohnung.
„Ich geh’ schon“, sagt Sophia und zieht sich Turnschuhe über. Ich blicke auf die Uhr: Es ist Viertel vor zwei.

Ich lehne mich aus dem Fenster und schaue an der Hauswand hinab, die Sonne strahlt mir ins Gesicht und ich rieche Blütenstaub, warme Erde und Tiere des Frühsommers. Glücksgefühle machen sich in mir breit, am liebsten würde ich durch die Wiesen rennen und stundenlang Blütenduft inhalieren, wie Großvater.

Unten steht Sophia bei der Postbotin und nimmt ein kleines Päckchen entgegen. Die beiden unterhalten sich, dann dreht Sophia sich um, schaut zu mir hoch, erschrickt und wedelt mit der Hand. Das heißt „Pass bloß auf, nicht rausfallen.“

Oben angelangt, reicht sie mir einen wattierten Brief. „Schau mal, Post aus Hamburg.“
Ich spüre mein Herz schlagen. Es ist fast wie im Traum mit dem runden Päckchen, nur dass das hier eckig ist.

Samir Khasholi steht in Schönschrift als Absender drauf, und daneben
ist eine Taube mit langen Wimpern gemalt, die nur von Tania sein kann. Als ich die Lasche abziehe, fällt mir zuerst ein Trikot des HSV in die Hände.
Ich blicke von Sophia in Richtung Fenster und zurück in meine Hände. Meine Trübsal ist völlig von mir abgefallen. Fehlt nur noch, dass die Postbotin das nächste Mal auf dem Dromedar die Briefe austrägt.