„Es gibt keine Emotionen im engeren Sinn dieser Tage“, wiederholte Miranda nachdrücklich. „Die Kinder“, und damit meinte sie alle Menschen unter 30, „ergehen sich in Schwarzmalerei und Psychopathologisierung ihrer kleineren und größeren körperlichen Aussetzer. Sie verspürten mal den Wunsch zu sterben? Über beide Ohren depressiv. Sie genossen den Schmerz beim einvernehmlichen BDSM-Sex mehr als ihr Liebster? Borderliner bis in die Haarspitzen. Sie verlieben sich in ein Arschloch, das sich nicht für sie interessiert? Sie diagnostizieren ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung! Die jungen Leute haben kein Problem damit, Pillen zu schlucken, um sich zu erlösen. Sie wollen einen schnellen Ausweg noch aus der seichtesten Tiefphase, und sollte der hochverehrte, ’natürliche‘ Weg, also Retreat, Waldwege, Sport, Ernährung, der in seinen Voraussetzungen äußerst schwer mit dem Konzept Psychopharmaka zu vereinbaren ist, nicht anschlagen, nun, was bleibt dann übrig? Damit beweisen sie ihr tiefes, genetisch verstärktes Bedürfnis, ein fordistisches Menschenbild zu reproduzieren, dass einen jeden Tag arbeitsfähigen und arbeistwilligen, mäßig glücklichen, d.i. äußerst zufriedenen Menschen zur Norm erhebt. Sie sind sich alldessen nicht bewusst, im Gegenteil – …“ „Ganz im Gegenteil, viele von ihnen lehnen das Weltbild des Neoliberalismus völlig ab!“, pflichtete Santino bei. „Ich kenne eigentlich keinen in meinem Alter, der sagen würde ‚Nice, Neoliberalismus!'“, schlenderte er zum kaputten Rolladen. Der Eierpunsch schwappte beinahe über, als er durch den Schlitz zu luken versuchte. „Beruhige dich, Kind, der Ort ist sicher.“
Santino sah sie lange und nachdenklich an und nippte am Glas. Sie war eine robuste Person. Ihr stahlgraues Haar glänzte von Haarspray und blieb völlig unbewegt in seiner Form, wenn sie auch heftig gestikulierte und den Kopf schüttelte. „Es geht mir nur um Sex“, hatte Santino sie einmal zu einem nigerianischen Tänzer lächeln hören, dessen Ensemble im Keller des Clubs einige Nächte auftrat. Der Mann blickte neugierig auf die kleine Dame, beugte sich zu ihr, und sie hatte später leichtes Spiel mit ihm. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass unsere Tage gezählt sind, meine Lieben.“, fuhr sie fort. „Die Plastikwelt, in der wir unseren Durst heute noch stillen, unsere intimen Rituale ausführen, deren Plastikmenschen wir zu Menschenopfern machen, uns selbst zur bluttrinkenden Erdgöttin, Tlaltecutlí, schmilzt unter glühenden Strahlen der Netzwerkverbindungen, schmilzt unter der unerbittlich glühenden Phantasterei verstümmelter Körper. Und macht Platz für einen Ort ohne Ausdehnung und Zeit, das blutleere Unbewusste einer Rasse von Tieren, formuliert in Umrissen und Farben. Unsere zähen Muskeln werden weich und klein, unsere Nasen taub und trocken. Die Augen aber werden unverhältnismäßig größer werden.“ Bei diesen Worten sah sie jeden von uns eindringlich an. Der Raum schien enger zu werden, die Distanz zwischen uns verringerte sich ins Unerträgliche. Ich schluckte schwer. Lehnte mich zurück, ja, unser Ende war nah.
„Habt ihr schonmal das Blut eines Jungen gekostet, der auf Medikamenten ist? Ich meine von jemandem, der so richtig durchtränkt ist, mit dem Zeug, der’s vielleicht schon seit Monaten verschrieben kriegt.“ Die Frage kam aus dem Halbdunkel neben dem Bettschränkchen, und wahnsinnig blitzte dort ein Paar Augen, den weißen Himmel zwischen den Rollospalten reflektierend. „Ich hab es nicht nur einmal getan. Ich hab es nicht nur ausversehen getan. Ich verspürte mit der Zeit eine Lust daran, nicht nur am süßlich-leichten Geschmack, sondern an der ganzen Art, wie diese Dinger sich geben. Natürlich hab ich am liebsten Mädels, aber so halbstarke Studenten haben auch ihren Reiz. Sie trauen sich nichtmal darüber zu phantasieren, was aus ihnen wird, wenn sie die Pillen nicht schlucken. Sie spüren von Nahem das Anderssein, die Angst, die Einsamkeit, sie spüren es nur auf der Haut, wie wenn man länger vor dem Kühlschrank steht und die feuchte Kälte das Gesicht berührt. Sie erklären mit Foucault die Grenze zwischen Normal und Wahnsinn zum sozialen Konstrukt, und spüren ganz genau wo diese Grenze in ihnen verläuft. Spüren ganz genau wie diese Grenze reproduziert gehört, und wollen ihren Teil vom Normalen aus dazu beitragen, nicht vom Wahnsinn aus! Es gab keinen anderen Weg, sagen sie, die Medikamente waren ihre einzige Chance. Wenn ich sie frage, was sonst mit ihnen passiert wäre, sehen sie mich mit großen Augen an. Ach, diese Augen, die an der Welt nur immer knapp vorbeigehen. Ich lache dann, und sage: Du wärst wie ich geworden, Süßer. Und sie lachen erleichtert, grinsen, schmunzeln, flirten, aber nicht – ihre Augen. Was ist das nur…sie sind nicht gerötet, nicht glasig, diese Augen, und doch so high, so dran vorbei, so unberührbar. Beim anderen Geschlecht finde ich’s eigentlich sexy. Macht mich wild, dieser offene Blick. Sie kichern und hören mit gutmütigem Lächeln mein Geschwafel an, das Geschwafel eines alten Verrückten. Früher hatten sie in solchen Situationen als verlässlichen Begleiter ihre Geheimnisse, ihre geheimen Missetaten gegen sich selbst: die Tatsache, dass sie sich noch vor 5 Minuten auf der Toilette dieses Cafés den Finger in den Hals gesteckt haben, die Tatsache, dass sie letzten Donnerstag drüber nachgedacht haben zu versuchen sich umzubringen, und auch wissen, wo sie die dazu nötigen Medikamente herkriegen würden. Oder die unerhörte Tatsache, dass sie sich am Wochenende von einem süßen Typen haben überreden lassen, ihm den Schwanz zu lutschen bis zum Würgereflex, eine Erinnerung fortan auch eingebrannt in jedem bulimischen Toilettengang. Diese Geheimnisse verliehen ihrem Lächeln immer eine gewisse Anstrengung, und ermöglichten den Flittchen stets eine Distanz zu mir, ein Bei-sich-selbst-sein. Eine Art Spannung an sich selbst, die sie für sich selbst spannend machte, einen Reichtum an sich selbst, ein Sich-selbst-ge“
„–Ist ja gut, wir haben’s verstanden!“, unterbrach der schwitzende Dicke, der sich neben der Tür auf ein Kanapee niedergelassen hatte. Er war in vielerlei Hinsicht ein wanderndes Klischee, aber die mir am auffälligsten scheinende Hinsicht war die Tatsache, dass sein dickes Gesicht immer schwitzte. Seine Unterbrechung gab mir Gelegenheit, mich aufmerksam im Raum umzusehen. Unsere Handys und Smartwatches hatten wir in die silberne Box gepackt, die auf der Kommode immer wieder unsere Blicke auf sich zog. Wir waren alle müde, dreckig und verstaubt. Jeder von uns strahlte eine ganz eigene Form von Unruhe aus. „Sei dir da mal nicht so sicher, Baldwin, dass ihr es verstanden habt. Ein äußerst komplexer Sachverhalt. Hör‘ zu, auch wenn diese Mädchen sicher nicht empfanden, dass sie sich selbst genug wären, spürte ich es doch ganz deutlich, dass sie sich selbst nah waren, und es kotzte mich an, es war mir unmöglich diese wahnsinnigen Flittchen völlig zu besitzen, nichtmal während ihr kleiner Körper in meinen Armen schlaff und kalt und leer wurde. Nichtmal wenn ich sie völlig ausgetrunken hätte. Ganz anders ist es nun mit den Anti-depressiven. Sie sind frei von solch demütigenden, schwachen Momenten. Sie lassen sich kaum zu finsteren Taten hinreißen, und sollte es doch einmal über sie kommen, sind sie deswegen weder beschämt, noch fühlen sie sich als schlechte Menschen. Während sie mir lächelnd zuhören, so wie du jetzt Santino, sind sie ganz und gar bei mir. Sie lächeln nur so breit, wie sie es gemessen an der Verrücktheit meiner Worte für richtig halten. Sie sind ein flaches Ganzes, ein Kreis, könnte man sagen. Sie–“
„Ich habe dir tatsächlich zugehört. Wie oft war ich gelangweilt von deinen Monologen, deinen pseudo-psychologischen Ausführungen. Aber dem Vortrag jetzt kann ich echt was abgewinnen. Ich weiß genau was du meinst, mit diesem Lächeln. Und weiß Gott, diese Augen machen mir Angst. Man muss nur einmal hineinsehen, um zu verstehen, dass diese Körper nicht zu Emotionen fähig sind, ich stimme dir ganz zu, Miranda. Trotzdem ist jede Form von Auseinandersetzung und Kommunikation geprägt von unersättlichem emotionalen Input, Reflektion von Gefühlen, offenen Aussprachen. Dieser Input betont die Wichtigkeit des taktvollen Umgangs mit eigenen und fremden Gefühlen, sprich, die emotionale Tragweite der emotionalen Tragweite von Emotionen, usw., aber all diese Auseinandersetzungen sind keineswegs emotional, denn dazu sind die daran beteiligten Subjekte überhaupt nicht fähig. Wie passt das alles zusammen? Ich sage euch das Lösungswort: sad fucking passions. Als ich vor damals weinend die Beatles mitsang, mit ausgestreckten Armen mich um mich selbst drehend, ‚I don’t know ho-o-ow, nobody told you …‘ war da eigentlich nichts als das. Sad passions, ihr wisst schon, so verdunkelnde, selbstmitleidige Phrasen, emomäßig, handlungslähmend. Spinoza gab ihnen den Namen, empfahl außerdem, sie zu bekämpfen. Die Spannung im Lächeln der Mädchen, die du beschreibst, ist ihr Schwelgen darin. Die sad passions artikulieren sich meistens in Schnulzen, die die materielle Wahrheit persönlicher Dispositionen verschleiern. Darin sind wir alle groß! Warte– nicht alle. Es gibt auch hier blutige Anfänger und Nichtskönner. Alles in allem aber eine menschlich-allzumenschliche Geste, sich sad passions hinzugeben und sie als Motive für die eigenen Entscheidungen zu begreifen. Ein selbstbewusster, starker, lebensfähiger Körper sucht nicht nach Schleiern und Filtern und Phrasen. Vielmehr durchschaut er die Gesetze, nach denen er organisiert ist, und versteht die Gründe für sein Handeln in verhältnismäßig simpel erklärbaren Affekten von Materie zu suchen.“
Seine letzten Worte gingen in einem rhythmischen Poltern unter, von weit fort. Die Welt ging unter in Poltern. Donnerschläge erschütterten in steigendem Takt die weiße Luft, den weißen Himmel roter Sonne über der öden Stadt. Die alten Schränke und Kommoden ruckelten, der Rolladen neben mir bebte und zugleich kam durch die Schlitze eisige, nasse Kälte hereingezogen, die sich vor meinen Augen in Froststernchen auf dem Fensterbrett niederließ. Ich rutsche Richtung Zimmermitte, die anderen begannen zu bibbern. Ein leises, ohrenbetäubendes Sirren breitete sich in der kalten Luft aus, drang tief in die Windungen meines Hirns wie ein Tinitus, die andern begannen den Kopf zu schütteln. „Das ist es …“, schwitzte Baldwin mit dampfendem Atem.
„Kinder, die letzten Jahre unserer gemeinsamen Feiern, Gebete und Mahlzeiten waren für mich ein einziges Fest!“, erhob Miranda ihre feste Stimme über die unruhige Welt. „Nie hätte ich ohne euch zu der Frau werden können, die ich an diesem heutigen Tage bin. Und die ich ganz sicher niemals war, auch niemals in mir trug! Ihr habt mir aus mir selbst herausgeholfen, habt mir gezeigt, was ich außer Dem sein kann! Und ich hoffe, ich konnte dasselbe auch für euch tun, oder für manche von euch.“ Dabei wandte sie sich in meine Richtung und ich sah Glitzern in ihren kecken Augen. „Gemeinsam haben wir diese Welt vor die gottverdammten Hunde gehen sehen! Haben Menschen in ihrer totalen Menschlichkeit kennengelernt, erbärmliche, langweilige Wesen! Unsere Rituale, unser Blutdurst waren letztlich nichts anderes als der Versuch ihnen näher zu kommen. Dasselbe Messer schneidet anders durch jede Haut. Und jedes Blut hat seinen eigenen Geschmack, wie ihr ganz recht festgestellt habt. Eine schaudrige Erinnerung an die auf den ersten Blick so zweifelhafte Existenz von Individualität. Wir haben der Menschen Innerstes betrachtet, gekostet, genossen, haben für sie gebetet, und doch waren sie uns immer fremd. Sie sprachen von Renfield oder Psychosen, während wir von Nähe, dem Horror existenzieller Freiheit und der unterschiedlichen Zusammensetzung von Körpern sprachen. Menschen behandelten uns immer nur wie Feinde. Als ob solche Wesen Feinde haben könnten! Haben Amöben Feinde? Haben Würmer Feinde? Wir aber haben allerdings einen Feind, und dieser hat uns nun endgültig besiegt.“
„Pah!“ Miranda drehte sich zu Baldwin. „Ja, mein Lieber?“ „Pah!“, wiederholte Baldwin, „es passt mit nicht, wie wir hier alle miteinander ins Schwärmen kommen, als wären wir eine Gemeinschaft, eine Bruderschaft!? Vergesst ihr es denn? Dass ein jeder von uns nur frei ist, insofern er ABSOLUT ist, nur er selbst ist, indem er allein ist! Die Entscheidung sich keinem mehr anzuvertrauen, niemandem zu gehören und niemals wieder Bündnisse einzugehen – wir haben sie unabhängig voneinander getroffen. Sie ist der Grund für unser Ende, sie ist, was wir Leben nennen. Und auch wenn wir hier sind um gemeinsam aufzuhören, würde ich doch jeden von euch umlegen ohne zu zögern, wenn ich damit meine eigene, fettige Haut retten könnte. Und auch wenn wir unzählige Male im Heiligen zusammenkamen, im Opferritus Zeuge der Kontinuität des Seins waren, die der Diskuontinuität unserer Lebensrealitäten sich widersetzt, … um es mit Bataille zu sagen …“ Vom Bettschränkchen Stöhnen. „… so weiß ich nicht einmal ob ihr es auf die gleiche Weise beschreiben würdet, was wir da erleben. Und so weiß ich sicher, dass diese Kontinuität allein, einzig und allein im Ritus erlebbar wird, das heißt nur in ihm überhaupt existiert! Deshalb führe ich die Riten ja aus, um einen Zusammenhang zu erleben, wo sonst keiner ist. Wir sind Einzelne! Ich bestehe darauf: Du bist allein! Du, und du, du auch, Ich, und … sogar du.“, deutete er zuletzt erregt auf mich. Sein Atem ging schwer. „Ich hatte nie großes Interesse an Frauen oder Burschen. Ihr wisst es, ich nehme mir meistens Kinder, kleine Kinder, so im Kindergartenalter. Irgendwas an ihnen reizt mich mehr und ich habe wirklich lange darüber nachgedacht, was das ist. Mir wurde nahegelegt, es könnte ihre Unschuld sein, die sie so verführerisch macht. Oder ihre Hilflosigkeit. Nun, das ist alles klischeehaftes Geschwätz! Ich erkannte, es sind gerade ihre Bösartigkeit, ihr ungestörter Narzissmus, ihr permanenter Streitsinn, die mich zu ihrem Verehrer machen! Sie würden sich niemals für jemanden Opfern, den sie lieben. Ihr Leben schon gar nicht, aber auch ihr Eigentum nicht. Ihre Raffgier ist die von Tieren, ihr Verständnis der Welt ist ein körperlich-gesetzmäßiges, ein noch nicht durch Metaebenen verwirrtes. Der Gesamtumfang ihrer Wahrnehmung passt noch bis sie 6 oder 7 sind in den Schädel eines Säugers hinein. Ihr Schädel ist nich überfüllt, zum Bersten vollgestopft mit Vergleichen, Gutem, Schuld. Solche Zutaten kommen erst im Grundschulalter rein, und zwingen die Schädeldecke, sich zu weiten, zu weit, weshalb in dieser Zeit eine Vielzahl feiner Risse den Kopf eines Menschen zu durchziehen beginnen. Zugegeben, bei manchen sind sie gar nicht mal so fein. Und sie heilen nie wieder zu.
Kinder, so sagt man, sind unsere Zukunft. Wieder so ein Geschwätz, zum Nachplappern, zum Mitdenken wie Mitlaufen. Deutlich heller sollte all diesen Matschbirnen einleuchten, dass Kinder unsere Vergangenheit sind! SO war ich auch! Und doch wird keines von ihnen werden wie ich! „Die Jugend ist die Zeit der Reife: vor dieser Zeit ist man alt, das Alter ist das der Vorurteile, aus denen man lebt. Ein Kind lebt die Vorurteile und damit das Alter seiner Eltern.“, so schreibt Althusser. Und es tut sich gütlich an den von ihnen erkämpften Reichtümern, bis das Kleine in die Pubertät kommt, und alles, was Eltern ist, für nichts erklärt, alles zertrümmert, sich von den Vorurteilen befreit und die alten Güter als Sünden empfindet. Zwischen Zukunft und Vergangenheit existiert keine Notwendigkeit. Zwischen ihnen ist nur der eine Moment ‚Jetzt‘, und dieser existiert nicht, genauso wenig wie der Pfeil ruht, erinnert euch! Sie sind nicht verbunden, der Pfeil fliegt blitzschnell und trifft dich genau zwischen die Augen.“ Er zeigte mit seinem dicken Finger auf mich und tippte sich dann an die Stirn zwischen seinen Brauen. „Das hat Zenon nicht erwähnt. Und alles, was passiert, hätte anders passieren können, niemals, niemals gibt es nur den einen Weg.
Wie lang stehe ich schon vor dem offenen Kühlschrank? Mein Herz pocht, nicht unbedingt schnell aber laut, schallend in meiner Kehle, Blut rauscht durch meine Ohren. Dazu das leise Sirren der Kühlschranklampe. Die Packung liegt hinten rechts im oberen Fach, seit drei Tagen. Ich starre sie an, seit drei Minuten. Irgendjemand sagte mal, es gibt nie nur einen Weg. Und, wenn jemand sagt, es gäbe nur einen, ist was faul an diesem jemand. Wer war das, wer war das … – Stop, wieso denk‘ ich über sowas nach. Ich greife mit dem ganzen Arm nach der Packung. Ein Überschwung, und ich mache sowas oft, und oft denk‘ ich ‚Wieso?‘. Lasse sie auf den Küchentisch gleiten, fülle ein schmutziges Glas mit Leitungswasser.
„Die Welt endet nicht mit einem Knall. Die Welt endet nie früh genug, und bin ich zu alt geworden, in ihr. Und so bleiben Wege, die manche von uns eingeschlagen haben, hinter ihnen nicht offen. Wir können nicht sterben, ohne Luft oder Liebe können wir nicht sprechen, uns nicht berühren. Baldwin hat recht, wir waren nie Eins. Bloß konnten wir uns gegenseitig hören, uns unterscheiden, uns unterbrechen.“
Ich öffne die Augen. Um mich Stille. Vor mir, auf dem Küchentisch, die kleine weißgelbe Pille. Ich nehme sie zwischen Daumen und Zeigefinger, die glatte Oberfläche schimmert nicht im Licht der Funzel. Es ist nicht der einzige Weg. Und doch der einzige, der mir gewiesen wird. Also soll ich wirklich? ‚Ja, du sollst!‘ Während ich das Glas zum Mund hebe, rast mein Herz zur Decke, meine Hände in Schweiß getaucht. Das Ding wird mir gegen den Rachen gespült.
Wir standen alle und betrachteten uns, ohne Wehmut. Eine Sturmböe brach durch den Rolladen, unendlich feine Tropfen berührten meine Haut. Jetzt schloss Santino die Augen, mit seinem „Ciao Belli!“ platzten die Wände unter dem Gewicht der Sintflut, Wassermassen erfassten einen jeden von uns und schleuderten uns weit, weit fort von dem kleinen Zimmer, in die Ruinen dieser Stadt, Atlantis, und drückten und zogen unsere Körper und umfingen sie, und erstickten ihre Geräusche, ihre Gesten. Treibgut in unendlicher Ruhe dröhnen Walherz Schläge gegen die Frequenzen ihrer unerhörten Lieder. Man kann sich sehen, man kann sich treiben lassen.