Weißt du noch?

Wir fuhren zusammen an einen See, hatten Zwetschgen dabei und Weintrauben, Salzstangen, Reste vom Frühstück und Auberginen-Aufstrich. Du verschwandst in einem Roman und ich beobachtete Leute. Dann redeten wir mit Pausen über deine fertig gelesenen Seiten, über Formulierungen, Satzzeichen und Charaktere und ich zeigte dir, wie sich Schilf im Wind bewegte. Zwischen den Bäumen waren Schnüre gespannt, an denen dünne Stofffetzen flatterten. Wir beschrieben die Stofffetzen-Farbpalette mit Mint, Flieder, Lila und Dunkelviolett. Nur bei einem verfranzten Flatterstoff haderten wir zwischen Pink und Magenta. Pink sagtest du und ich fand, das war eine gute Wahl. Du erzähltest mir, wie du als Fuchs durch Wälder streifst und auf Lichtungen in die Sonne blinzelst, wie du aus Moos eine Schlafstelle bastelst und dich mit Quellwasser stärkst. Du erzähltest mir, wie dir Flügel wachsen, wie du dich zwischen Baumkronen bewegst und die Gleichzeitigkeit von Mond und Sonne nicht bewertest, wie du Sternbilder verschiebst, neue Geometrieformen erschaffst und zwischen Dimensionen springst. Du erzähltest mir, wie du auf Kirschbäume kletterst und Kerne spuckst, damit Kirschbaumwälder entstehen. Und ich hörte dir zu und beobachtete dich und nickte, weil du recht hattest. Dann saßen wir da im Schneidersitz, und verschwisterten uns für das Erschwimmen neuer Welten. Dann standen wir auf, gingen zum Steg, sprangen ins Wasser, choreografierten nebeneinander ein paar Züge und tauchten mit dem Kopf unter und zählten, wer am längsten die Luft anhalten konnte, bis wir merkten, dass wir mit Fischen atmen können und zu prähistorischen Amphibien werden, die Flossenschläge ins Morgen machen. Als wir danach zu dir gehen, da setzte ich mich wie üblich auf den Stuhl mit Lehne, legte meine Füße auf den Hocker und wir machten uns mit Drehungen und Wendungen aus, wer Assoziationsketten weiterführt. Erzählst du mir jetzt, sagtest du. Und ich erzählte dir von Grauschattierungen, von Spiel in Spielen, von vertikalen Stadtstrukturen und aufgeschürfter Haut. Wenn ich nach Erklärungen kramte, dann starrte ich kopfversunken ins Leere und wenn ich wieder zu mir kam, dann fragte ich nach Tattoos, die ich neu auf deinem Arm entdeckt hatte und bat dich mir eines zu zeichnen, das aussieht, wie sich unser Lachen anhört. Jetzt lachen wir nämlich wieder. Dass wir beide nicht gelacht haben, als wir uns kennenlernten, weißt du das noch? Dass wir uns unser Lachen zurück gelernt haben? Wir gingen in einen stillgelegten Tunnel und stellten uns gegenüber auf. Wir riefen unsere alten Namen, die überlagert zu uns zurückgeworfen wurden. Dann lächelt jemand von uns, ich weiß nicht mehr, wer zuerst. Und das leise Lächeln flicht sich in das Echostück ein, bis es zu einem Grinsen, einem Mundlachen, einem Brustlachen, einem Bauchlachen wird. Bis wir weinend auf dem Boden sitzen vor Lachen, während um uns herum, Namen gegen Backsteine geschleudert werden, bis sie aufgebrochen sind zu Buchstaben, zu Linien und Kurven, zu Punkten, und wir anfangen uns aus kleinsten Teilen neue Namen zu basteln, uns aus kleinsten Teilen neu zu bauen. So lernten wir unser Lachen zurück, du und ich. Weißt du noch?

Wenn ich nicht schlafen kann, dann berechne ich das Muster, das von Straßenlampenlicht durch Glasscheiben geworfen wird. Zwei Kästen untereinander, ein langer Strich, daneben nimmt die Helligkeit deutlich ab, trotzdem lassen sich dort insgesamt zwölf Rechtecke ausmachen, die von der Wand über die Decke fließen, wie Wasser, Wasserlicht. Wenn das Fenster in einem anderen Winkel geöffnet ist und sich dadurch die Reflexionen verändern, dann können es auch einmal 18 Formen sein, über die sich eine zweite, doppelte Schattenschicht legt. Manchmal begegne ich mit meiner Hand dem Licht und tanze dabei Pirouetten, spiele Klavier. Dass ich eine Zeit lang gewohnt war, mit Nicht-Schattenfingern auf Nicht-Schattentasten zu spielen, das weißt du. Manchmal verlor ich mich in den Übungen und Stücken auf schöne Weise, ein paar davon kennst du. Aber so richtig Abdriften in ein Nichts oder in vollgepackte Welten, das passiert mir nur mit Tönen, die von anderen gespielt und erdacht werden. Einmal nanntest du mir einen Musiktitel, nimm ihn als Soundtrack für eine Geschichte über uns, sagtest du. Dann erzählte ich dir, wie wir mit einem Aufzug nach unten fahren, während der Song im Hintergrund läuft, durch eine Drehtür das Hotel verlassen und lachend auf der Straße stehen. Wie wir auf die andere Seite wechseln, ich deine Hand nehme und den Weg leite, weil ich hier schon einmal war. Wie wir uns durch eine Hecke zwängen, um zu einer Tür zu gelangen, die sonst niemand sieht.

Wie sich dahinter ein Naturschutzpark auftut, mit Steintreppen und Pfaden, mit riesengroßen Bäumen und einem Bach und Vögeln, die nah an uns vorbeifliegen. Wie wir zum Himmel Tagträumen, und während die Musik aufhört zu spielen, befinden wir uns in zeitlupenartigen Drehungen, wo sich Grüntöne vermischen und Käfer auf zwei Beinen stehen. Du ziehst mich weiter, zu einer anderen Tür, die uns zurück zu Melodie und belebter Gegend bringt. Hinein in eine kleine Bar, ein Getränk und Kritzeleien auf Servietten, weiter durch den Hinterausgang in einen Innenhof, durch ein Fenster, über eine Treppe zu einer Band, die spielt und uns tanzen lässt. Du mochtest die Geschichte, weißt du noch?

Ich hörte mir den Song nicht nur, aber auch für die Geschichte in Dauerschleife an. Das mache ich oft. Etwas in Dauerschleife anhören. Alben. Einzelne Lieder. Kurze Liedsequenzen.

Immer wieder und wieder und wieder. Der Stil wechselt mit der Stimmung, die Stimmung wechselt mit dem Stil. Und dann hörte das einfach auf. Weil alles auf einmal zu laut war. Alles war so unendlich, in geordneter Form zu laut. Jetzt ist alles still. Nur in schlaflosen Nächten, und wenn es regnet, dann stehe ich auf, um näher an Regenwind auf meiner Haut und Regengeruch in meiner Nase zu sein. Auf dem kurzen Weg zum offenen Fenster steht ein Ganzkörperspiegel und ich bleibe eine Weile stehen, um fluide Dreiecksmuster zu beobachten, die vorbeifahrende Scheinwerfer auf meinen Bauch werfen.

Und wenn mein Bauch frei von weißen oder roten Lichtformen ist, dann setze ich mich hin und höre mir das weich-dynamische Geräuschkonzert an, ergänzt durch harte Tontropfen, die irgendwo in der Nähe entstehen.

Bist du müde, oder mach‘ ich dich müde, wolltest du wissen. Und ich sagte nein. Nein, du machst mich nicht müde, aber du hast mir von langen Belichtungszeiten erzählt, wo alles verwischt außer man selbst. Da stehe ich mit dir gemeinsam still und beobachte die zerrissenen Farben um uns herum.

Danke, sagtest du. Und ich fragte, wofür. Dann holtest du Eis aus dem Gefrierschrank, richtetest zwei Schüsseln her und wir setzten uns auf die Terrasse, löffelten sechs verschiedene Sorten und tauschten, wenn uns etwas nicht schmeckte. Als es dunkel wurde, holtest du Decken und Tee. Ich lehnte mich gegen die Mauer, mit der Tasse in der Hand, beobachtete Dampfgirlanden und du legtest dich seitlich hin, dein Kopf auf dem Oberarm mit der Narbe. Dann hörten wir dem Knarzen und Zirpen zu und fanden Umrisse von Steineulen und Steinigeln und echten Eulen und echten Igeln. Du blutest, sagst du nach einer Weile und holst eine neue Kanne Tee. Und ich stelle meine Tasse ab und suche an meinem Körper und finde und fasse mit der rechten Hand an meine Rippen und prüfmustere dann dich. Und du suchst auch an deinem Körper und findest auch. Und dann sind wir mit schimmernd lumineszierender Flüssigkeit in unseren Händen und beobachten, wie sich Textur verändert und Mikroorganismen entstehen, die Füße bekommen und sich vermischen und über uns ausbreiten, über die Terrasse, über Eulen und Igel. Wir isolieren uns fließend von Geräuschen, ordnen uns weg von Temperaturgefühlen und sehen unsere Umgebung durchsichtig werden, bis es weder Entfernung noch Nähe, weder ein Jetzt noch Gestern noch Morgen gibt.

Dann sehen wir uns gleichzeitig und sehen uns nicht, fühlen uns gleichzeitig und fühlen uns nicht. Wenn ich nicht die Wahrheit denke, dann weißt du das vor mir, und siehst meine Tränen, wenn ich es verstanden habe, und projizierst mir Raumbilder auf Staubwände zum Erholen. Dann gestikuliere ich dir, wenn es mir genug ist, und Staubwände werden zu Staubtreppen, werden zu Staubbooten, in die wir uns gegenseitig retten und mit denen wir uns voneinander entfernen und mit denen wir uns wiederfinden. Komm, sagst du.

Und wir trugen die Eisschüsseln und die Teetassen und die Teekanne in die Küche, bevor du

mir die zuletzt entwickelten Aufnahmen zeigtest. Wir streiften den Tisch entlang und ich sah vier Personen und drei Häuser, ein rechtzeitiges und ein zu spätes Ankommen, einen Wald und einen Fluss. Je näher wir dem Tischende kamen, desto klarer traten die fokussierten Objekte und Subjekte hervor, während der fluide Hintergrund zu einer Farbmasse verschwamm, so wie du erzählt hattest. Weißt du noch