Wir müssten nicht sprechen

Die Rufe der Prachttaucher werden weniger. Ich merke es erst, als sie für kurze Zeit wieder mehr werden. Sie werden bald Richtung Süden ziehen und ich weiß nicht, ob ich sie darum beneiden soll. Ich habe keine Angst vor dem Winter, aber vielleicht sollte ich. Nachts werde ich bei jedem Warnruf wach. Früher war mein Schlaf tiefer.

Sie haben zwei Rufe. Ein langes, elegisches Heulen, ein Klageruf, so klingt es für mich. Für sie ist er eine Frage. Allein auf weitem See. Wo seid ihr. Aber auch: Hier bin ich. Das ist mein Revier.
Und ein kurzer und schneller Ruf, ein knarrender Schrei. Eine Warnung.
Beide Rufe sind laut und bei günstigem Wind kilometerweit zu hören. Im windstillen Wald weiß ich: Ich bin noch nicht allein.

Abends schreibe ich. Der Prachttaucher ist der schönste Vogel. Ich denke manchmal, er kommt aus meinen Träumen.

Kommt der Winter überhaupt? Es ist ein später Monat und noch zu warm. Vielleicht war ich zu hoffnungsvoll mit meiner Annahme, im Norden werde es immer kühler. Ich habe schon lange keinen Zugang zu Nachrichten mehr. Die Wetterprognosen sind ohnehin ungenauer geworden.

Dann sehe ich einen. Einige Meter vom Ufer entfernt. Der stählerne Kopf unter Wasser. Es ist der erste seit langer Zeit. Ich freue mich darüber.
Von nahem ist das Gefieder kariert, wie schwarz-weiß gefliest, ein dunkler Rücken, ein heller Bauch. So glatt und eisern, wie sie sind, könnten sie gefiederte Wale sein.
Durch die Gewässer und den Himmel tauchend. Konnte ich sehen, was sie sehen, würde ich mich keinen Schritt weiterbewegen. Der Blick hinab zum Grund, von oben, der Blick auf den Wald. Dank diesem Unwissen laufe ich weiter. Sie ziehen weiter, seit die Tage kälter werden. Auch dieser wird sich bald auf den Weg machen. Der Kopf taucht aus dem Wasser auf, wie ein Klappmesser, das sich öffnet. Er treibt still und schaut, und auch ich schaue, rühre mich nicht. Für diesen Moment sind wir gemeinsam und dann sind wir verschwunden. Wo er auftaucht, kann ich nicht mehr sehen.

Ich habe einmal einen toten gefunden. Ans Ufer gespült und eigentlich unversehrt. Die Brust war noch warm, aber ich brachte es nicht über mich, ihn zu essen. Sie können nicht laufen an Land und so nahm ich ihn mit. Wie möchte ich bestattet werden? Ich habe mich das zum ersten Mal gefragt. Wie möchte ich sterben?
Nicht als Haufen am See. Nicht nass und voll Erde. Aber wie anders kann es schon sein? Ich verbrannte ihn. Der Stahl schmolz, es knackte und zischte und das Fleisch briet, briet durch, verkohlte. Ich fütterte den Wald, gab frei dem dunklen Schlund und weinte keine Träne.

Überall blitzt Granit. Granit ist mein Boden und meine Haltung, Granit ist der Teil meiner Wirbelsäule der horizontal verläuft, versteinerter Knochen im Grund, tief unten zuweilen, aber das bin immer noch ich.

Staunen. Ich laufe über ein kilometerlanges Os von ein paar hundert Metern Breite. Einst vergletschertes Land, dessen Schmelzströme auf ihrem Weg zum Grund des Gletschers Sediment mitnahmen, es entlang ihres Laufes ablagerten. Als das Eis taute, blieben diese Wallberge in den Talbereichen ehemaliger Gletscher. Links und rechts um mich herum Wasser, nur ein schmaler Streifen Land vor und hinter mir. Hier bin ich vollkommen ungeschützt, die Baumreihen sind licht, der Tag hell, trotzdem laufe ich auf dem höchsten Punkt. Das Wasser bis zum Horizont, nur unterbrochen von rundgeschliffenen Schäreninseln. Ich werde ehrfürchtiger mit zunehmender Kälte.

Die Straße. Rundherum ist Wiese, ein letztes, nicht zu ertragendes Grün im Sonnenlicht. Ein schmaler Streifenschatten, in dem ich gehe. Es ist Sand auf der Straße, der Asphalt hat tiefe Furchen, wo das Wasser im Winter gefror, und die Straße aufriss. Schösslinge stehen darin, kniehoch, junge Birken, die das Licht brauchen. Wenn sie den Frost überstehen, werden sie Pflöcke sein im Schnee, für Boote, die im gefrorenen Wasser nie ankommen.

Gedanken, die ich nicht ordnen und lenken kann, ziehen Kreise in meiner Schrittmeditation. Ich möchte Strecke machen, ich möchte vorankommen, bevor es zu kalt dazu wird, bevor das Grün erfriert. Und noch etwas anderes treibt mich an, etwas, das ich nicht verstehe, dem ich aber vertraue.
Mein Kopf ist ansonsten leer, der Himmel liegt auf verschlossenem Schädel, als schwebte ich unter der Wasseroberfläche, näher werde ich ihm nie kommen.
Seit einigen hundert Metern begleitet mich ein Birkenwald und sein sakrales Weiß geht mir auf die Nerven. Ich gehe auf dem Zahnfleisch, bin gegen meinen Willen Teil ihrer Prozession, erst mit mir wird es ein Marsch. Warum bin ich rituell vereinnahmt, ich möchte nur meinen Weg machen. An geschützter Stelle anhalten, vielleicht einen Ort finden, an dem ich einen Tag ausruhen kann, mit Beeren, Wasserzugang und Unterholz für Pilze.

Wolken bilden sich, fransige Bänder wie weißer Krepp. Wie heißen die nochmal. Sie verschieben die Schattenlinie schneller als die untergehende Sonne es tut. Bis ich einen Platz zum Schlafen finde, gehe ich an den Rändern des Lichts.
Ich suche, stehe im Dunkel zwischen schwankenden Stämmen. Da muss doch irgendwo jemand sein. Wie ergeht es uns in der gefrorenen Nacht? Wenn die Gedanken allein sind. Wenn der Giermagen knurrt und das einzig Warme ist, fließt es durch das Myzel, aus dem Inneren des Körpers, in mich hinein. Elektrische Signale, deren Informationsgehalt ich nicht verstehe, ich werde Pilzbrut, schaue aus dem Mund des Waldes zum Himmel und durch mich pulsiert die Einsamkeit.

In der Morgendämmerung bin ich Tier. Wir streifen durch den Wald, denken in Revieren. Ich pinkele an Steine und Stämme, um die Verzweiflung zu zerstreuen und eigene Fäden zu hinterlassen. Findet mich.

Gleichzeitig: wagt es nicht, einzudringen.
Ich kauere und rufe. Horche dem Echo nach, dann der Stille. Lasse den Schall frei und weiß, er wird zurückkommen. Schall gibt es nicht in der Mehrzahl.
Ich finde Kratzspuren am Stamm, nah an meinem Lager. Sie sind auf Kopfhöhe. Hast dich wohl auf die Zehenspitzen gestellt, du Hinterbeintier. Mein Urin spritzt auf die Erde. Schon klar, dass das egal ist. Das Revier ist nur für den Kopf.

Oder aus dem Ihr ein Du. Lieber wäre mir ein Du, ein einziges. Ein Du das ist wie Ich, aber nicht ganz. Das Ich-Du und das Du-Ich, wir wären das einzige Team und es wäre leicht. Wir müssten nicht sprechen, aber wir könnten.

Manchmal würden wir und hätten nur uns zum Thema.

Noch sind die Taucher da. Ich schwebe mit ihnen unter der Wasseroberfläche. Im unbewegten See weiß ich. Ich bin nicht allein.

Abends schreibe ich. Vielleicht bleiben sie bei mir. In meinen Träumen können wir überwintern.