Dicke Schlieren wölben sich von meinem hinteren Rachen nach vorne, dunkel und rot dehnen sie sich krampfend aus und erpressen meine Zunge, werden zum Einzigen, was ich spüre – rau, feucht und gewaltig.
Reine Routine. Flugzeuge stürzen häufiger ab, und die Quoten dafür sind bereits unwahrscheinlich niedrig.
Reine Routine, höre ich, als sie hinter den Glasschiebetüren zu einer milchigen Silhouette wird.
Ich widerstehe dem Drang, zum Waschbecken zu laufen und zu spucken, bis nichts mehr übrig ist – habe Angst davor, nicht mehr übrig zu sein. Die Schlieren legen sich über meinen Gaumen wie eine zweite Haut, die alles bedeckt und sich festsetzt, abgeschabt werden muss, abgeschabt werden soll. Mit jedem Mal Schlucken schiebt sich ihr Geschmack weiter nach vorne. Bald werde ich ihn an meiner Zungenspitze fühlen – nicht süß, nicht salzig, zinnoberrot.
Sie legen ihr die Risiken auf einem schlecht kopierten Blatt Papier dar, von partieller Taubheit bis zum Ende. Hier, in diesem kahlen Raum, sitzt sie, mit dem lieblosen Krug Wasser, den gestapelten Gläsern, dem surrenden Kühlschrank ohne Inhalt, weil niemand auch nur einem Lebensmittel das alles mit reinem Gewissen zugemutet hätte.
Sie legen mir die Risiken vor.
Wir setzen unsere Unterschriften auf das Papier, schnell und hastig, alles immer schnell und hastig. Wir stimmen zu.
Im zugewiesenen Zimmer packe ich meinen Koffer gar nicht erst aus. Der Schrank hat keine Einlagebretter, warum also Stoff für Stoff von einer unsortierten Umgebung in die andere hieven. Eine Schwester klärt mich über das Prozedere auf: duschen, Haare waschen, Kittel anziehen, einen Knopf verschließen. Slip darunter sei in Ordnung. Sie holt die Instruktionen für danach, es sei ein Roman, meint sie, ich bräuchte nicht alles lesen. Ich blicke auf das Buch in meiner Hand, eines von vieren, und vergleiche es mit den vier ausgedruckten Seiten. Polenta mit Kaffee als Frühstücksempfehlung, für das Hauptgericht Fleisch oder Fisch, ordentlich durchgegart. Ich lege die Seiten in den verschließbaren Beistelltisch.
Ob sie den Polenta mit Milch im Kaffee oder mit Zucker oder einfach so gegessen hätte? Mir hätte sie keinen Kaffee dazu gegeben, ich war ja noch zu jung dafür. Mit dem Fleisch und dem Fisch hätte sie auch kein Problem gehabt.
Das Blut hat sich mittlerweile an die Innenkanten meiner Zähne geklebt. Meine Zunge reibt dagegen, liebäugelt mit der Mischung aus Gier und Abscheu, will es nicht wahrhaben, aber verlangt dennoch danach. So, wie man nach dem süßlichen Schmerz von aufgeschürften Knien verlangt, nach den darauffolgenden Armen und tröstenden Worten einer Mutter.
Um 7 Uhr früh muss ich bereit sein.
Um 7 Uhr früh steige ich am nächsten Tag aus dem Krankenbett und hole das OP-Hemd aus dem Schrank. Die Patientin neben mir gähnt, ihre Infusion gurrt, das Bett gegenüber ist leer. Im Bad läuft das heiße Duschwasser in klobigen Perlen über meinen Rücken. Einer der wenigen zugestandenen Momente in Einsamkeit, Wasser und Haut, ein Körper, der nach 7 Uhr ein anderer sein wird. Das Handtuch ist rau. Ich ziehe den Kittel an.
Sie war immer früh wach. 7 Uhr, das wäre in ihren Augen spät gewesen. Sie machte mir Tee oder Kakao, schmierte mir ein Brot oder erlaubte mir an besonders schweren Tagen eine Schüssel klebrigsüßer Cornflakes. Sie schloss den Kittel mit dem einen Knopf lange bevor sie musste. Sie war immer überpünktlich. Wusste sie, wann es soweit war?
Unter der Decke warte ich darauf. Zuerst schiebt man mich weiter in die Abhängigkeit, die Pille schmeckt weiß und leer. Für meine Beruhigung. Ich will nicht ruhig sein. Meine Venen sind an den gewöhnlichen Stellen abtrünnig, das sage ich immer gleich zu Beginn, doch noch nie hat jemand auf mich gehört. Die hohle Nadel bohrt sich schlussendlich doch in meinen linken Handrücken und in den Kreislauf meines Körpers, das durchsichtige Päckchen mit der durchsichtigen Flüssigkeit wird angeschlossen und an einem Haken am Krankenbett befestigt. Ich spüre die Substanz. Langsam kriecht sie meinen Arm hinauf, mit jedem Millimeter wird sie kälter, werde ich ruhiger. Ich will ruhig sein. Ein- und ausatmen. Einatmen mit dem Fremdkörper, aus mit der Nadel, im Takt zum stillen Tropfen im Beutel.
Ich werde allein gelassen. Bis die Ruhe wirkt. 10, 9, 8…1: Ich lausche dem Meer, den Vögeln, dem Wind in den hohen Tannen, beobachte die Wellen, stehe erhaben über ihnen, geschützt durch ein bemoostes Geländer, lebendige Landschaft, die weiße Gischt rollt auf mich zu, der Boden unter meinen Füßen ist weich und erdig, ich bohre mich in den Grund, standhaft, ruhig, ich bin ruhig, verbunden mit allem, was die Erde zur Welt macht.
Vielleicht könnte ich hier sterben…8, 9, 10.
Mir entfließt die Wirklichkeit in roten Zügen, im dicken Fluss.
Benommen ist mein Puls im Normalbereich und meine Gedanken sind runde Kügelchen, schwerelos kreisen sie durch den Raum. Bald tröpfeln weitere Mittel in mich hinein und als ich den Flur entlang rolle, halte ich dem Pfleger die Türen auf, fühle mich nützlich in all der über mich hereinbrechenden urmenschlichen Schwäche.
Neben mir rollt ihr Bett, leer.
Hinter einer milchigen Glastür merke ich, wie betäubt ich bin. Ich soll mich auf den OP-Tisch heben. Meine Arme stehen vor der absoluten Kraftlosigkeit, nur mit extremer Anstrengung schaffe ich es, meine Ellenbogen zu belasten, dann den linken Arm und den linken Fuß auf die andere Liege zu wuchten, den Rest von mir mit aller Gewalt den Gliedmaßen nachzuziehen. Der Kittel schneidet mir den Hals ab, ich zerre vergebens, nichts geht mehr. Ich bin ruhig.
Der Raum ist still, grün, metallisch. Während mein Körper zum Objekt wird, vernimmt mich die Anästhesistin. Ich antworte ihren Fragen, wenn auch langsam und mühevoll. Stellen Sie sich einen vertrauten, schönen Ort vor, für die nächste Stunde. Ich erzähle ihr von der Gischt und den Tannen, und sie meint, das hätte sie noch nie gehabt, eine Patientin, die von Kanada träumt. Den Teil mit dem Sterben lasse ich aus. Ihr Assistent hält mir den vermeintlichen Sauerstoff vor Mund und Nase und in der Lüge tauchen Pottwale und gleiten Weißkopfseeadler und ich mit ihnen – bis meine Augen vom gleißenden Licht des Aufwachraums geblendet werden.
Guten Morgen, legt man mir ein Kühlpaket auf den Hals. Ich kann nicht schlucken, alles ist rau und trocken, mein Hals ist eine Schuttmulde, meine Zunge ein lebloses Stück Fleisch, ein Fremdkörper, nutzlos. Anheben. Mein Kopf wird etwas erhöht und langsam fließt das Leben in mich zurück und meinen Hals hinab. Ich fühle mich eng, meine Lippen sind trocken, aufgerissen, klobig und die Augenlider klammern sich hilflos aneinander. Alles ist gut verlaufen. Ich lächle trübe.
Als sich das Blut eine Woche später in meinem Hals zu sammeln beginnt und ich es erst merke, als ich mich vornüber ins Waschbecken beuge, so tief, dass meine Haare auf der weißen Keramik aufliegen und die rote Substanz sie benetzt, wie ein Film, der rückwärts abläuft – bin ich froh.
Blut spürt man.
Ich bin froh, als die Rettungsleute die Wohnhaustreppe herauf hechten, als ich auf die Trage gelegt werde, als ich in den Wagen gehievt werde. Nicht Vieles ist zinnoberrot, der Tod ist farbenblind, und dieses eine Mal noch kann ich ihr näher sein. Also erzähle ich ihr, was uns nun für immer verbindet, was mich für immer an sie bindet.
Drei Tage füllen wir wieder denselben Raum, dann muss ich sie gehen lassen.
Das Zinnoberrot, das war ganz warm, fast wie das Duschwasser. Auf der anderen Seite der Schiebetüren finde ich es bedauerlich, dass es fort ist. Die verbleibende Substanz ist schwer und ungreifbar. Ich finde es bedauerlich, dass ich sie erneut verloren habe, dass sie im Raum mit dem surrenden Kühlschrank und dem schalen Wasser im Krug am Plastikbezug lehnt, aus dem Fenster schaut, ihre Lippen schmal im künstlichen Licht.
Ich bin leer und atemlos, freigewaschen. Ich habe nichts mehr zu vermelden.
ich spucke.
und spucke.
spucke.