Der einundsechzigjährige Landwirt Josef K. aus dem rheinischen Niederweiler wurde, bei kleinen Reparaturarbeiten an einem Stallgatter, von seinem dreijährigen Zuchtbullen Romeo so schwer verletzt, dass er noch am Unfallort verstarb. Seine Familie saß noch in der ersten Bestürzung über das endgültig und unvermittelt hereingebrochene Unglück, als ein zweites Ereignis den familiären Schmerz jäh vertiefte.
Johanna Delphine Uebergall nämlich, die sich als langjährige Vorsitzende der militanten Tierrechtsorganisation Cosmic schalom vor allem in radikalen Veganerkreisen einen Namen gemacht hatte, bejubelte dies auf Facebook als einen längst überfälligen Akt der Selbstbefreiung von Kette und Joch. „Ein dreijähriger Bulle hat nahe Köln seinen Sklavenhalter angegriffen und tödlich verletzt. Wir knien nieder vor dem Held der Freiheit. Mögen ihm viele weitere Rinder in den Aufstand der Geknechteten folgen.“
In den sozialen Netzwerken Empörung, Verstörung, wenig Verständnis. Dazu aus zuchtbullennahen Kreisen ernste Warnungen: Kein voreiliges Niederknien in Zuchtbullennähe. Niemals.
Familie K. wiederum, durch die Organisation der Bestattungsabläufe ohnehin in Mitleidenschaft gezogen, schwankte tagelang zwischen Wut und Trauer, erstattete dann aber bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen Beleidigung und Störung der Totenruhe.
Der Tag der Hauptverhandlung nun schien von Johanna Uebergall geradezu herbeigesehnt zu werden, so ließ sich ihr nervöses Trappeln und Hufescharren vor dem Sitzungssaal verstehen. Sie sei nicht bereit, auch nur eine Silbe ihrer Äußerungen zurückzunehmen, blökte sie schon vor Beginn der Verhandlung durch den ganzen Saal. Vom Vorsitzenden daraufhin zur Mäßigung ermahnt, schnellte die Uebergall empor wie eine Königskobra, der Richterbank entgegen, wollte schnellen, genauer gesagt, verfing sich aber mit dem Saum ihres Baumwollkleides an der Stuhlkante. Dieser kippte zur Seite, die immer noch schnellende Uebergall aber stolperte über die nun waagerecht herausstehenden Stuhlbeine und stürzte schwer auf den neben ihr bereits dösenden Gerichtsbediensteten Ottfried H., ihn gleichermaßen zu Boden stoßend. Blieb dann liegen, mit leisem Jammerton, mitten in Ottfried H.s melodiös befluchtem Wiederaufrappeln. Der mit großen, vertrauenerweckenden Schritten herbeieilende Gerichtsarzt stellte eine relativ unproblematische, aber außerordentlich schmerzhafte Torsionsverletzung des rechten Knies fest und versorgte die oberflächlichen Schienbeinabschürfungen.
Allgemeines Stimmengewirr.
Und über allem mit einem Mal der überraschend wohltönende und erstaunlich weltgewandte Bariton von Clemens K., Sohn des Bullenopfers, Agraringenieur und Naturphilosoph. Schweigsam und findlingsgleich war er bisher dagesessen, in rundköpfiger Bäuerlichkeit, schwer wie Lehmboden.
Ob er, Clemens, denn der einzige wäre, der in diesem Ereignis ein Zeichen sähe? Ein epochales Zeichen, ein emanzipatorisches Zeichen, dass das Sitzmöbel sich endlich an seine Herkunft aus starkem Holz und stolzem Stamm erinnere? Sich dieser Stuhl gegen Ausbeutung und jahrhundertelange Arschbackenknechtschaft empört habe? Und auch der Polyvinylchlorid-Fußboden! Habe der sich nicht der Uebergall geradezu aufsässig entgegengeworfen und die langen Polymerisationsketten im molekularen Freiheitsrausch zerschmettert? Seine Ketten zerrissen genau wie Romeo, der Bulle. Er, Clemens K., würde mit Freuden hier die Scheiben aufreißen, um diese Botschaft bis hinaus in die düster aus der Eifel und dem Siebengebirge herunter drängenden Kiefernwälder hinauszuschreien, die doch noch wie Leibeigene in den alten preußischen Pflanzreihen ständen. Aufbegehren sollten sie und sich auf das verhasste Menschengeschlecht stürzen, ganze Sippschaften dieses zwergenhaften Despotenpacks auszulöschen.
Er, Clemens, fürchte aber, mit seinem Aufreißen den Fenstergriffen Gewalt anzutun. Clemens schwieg, und blöde Bestürzung verlief sich um ihn her. Über das Gesicht des Vorsitzenden Richters huschte etwas, was der gleich dabei sitzenden Beisitzer entweder als Lichtreflex einer Klarsichtmappe, den Widerschein des Handydisplays oder als Vorform eines Lächelns hätte deuten können. Er sehe sich gezwungen, über Clemens K. ein Ordnungsgeld von 75 € wegen Missachtung des Gerichts zu verhängen, folge im Übrigen aber der Argumentation der Familie und verurteile Johanna Delphine Uebergall nach Aktenlage zur Zahlung von 1200 € Schmerzensgeld, ihrer unklaren Finanzsituation wegen zu 48 Tagessätzen a 25 €. Das Urteil sei rechtskräftig.