I
In Cuxhaven gibt es ein Meerwasser-Wellenschwimmbad. Kurz bevor – alle halbe Stunde – die Wellen kommen, erfolgt die schöne Ansage: Achtung, in fünf Minuten Wellentätigkeit (gesprochen: Wellenteetichkeit). Dieses Wort habe ich bislang nur dort vernommen, aber mir gefällt es, denn es korrespondiert mit der mechanischen Erzeugung dieser Schwimmbadwellen. Im Meer gibt es keine Wellentätigkeit, sondern Wellen.
Die nördliche Sanderau in Würzburg ist ein Wohnviertel, in dem, auch durch zunehmende Innenbebauung, die Menschen dicht beieinander leben. So hatten viele etwas davon, als im heißen Sommer 2019 eine anscheinend sehr begeisterungsfähige Frau Töne höchster Lust von sich gab, und zwar häufig, laut und ausdauernd. In der Zeitschrift „Sowjetunion heute“ hieß es unter den abgedruckten Reden des Genossen Breschnew: Lang anhaltender, nicht enden wollender Beifall. Und diesen Eindruck hatten die unfreiwilligen Zuhörer in der Sanderau auch, lang anhaltender, nicht enden wollender Sex. Der Beifall hielt sich allerdings in Grenzen. Das lag auch daran, dass die vielen Höhepunkte zu den unterschiedlichsten Zeiten auftraten, mal vier Uhr früh, gern auch zwischen sechs und sieben, zur Mittagszeit, abends, spät in der Nacht und ab und an durchaus zweimal am Tag. Beim ersten Schrei war der Umwelt klar: Achtung – Liebestätigkeit!
Die akustische Entsprechung zum Voyeur wäre der Lauscher. Aber genau darum ging es hier nicht, denn man kann zwar wegschauen, aber kaum weghören, wird also gezwungenermaßen zum Zuhörer der wilden Sprache der Fleischeslust. Man schämt sich natürlich auch, weil man zu diesen ekstatischen Lauten unwillkürlich Bilder imaginiert. Weiter entfernt wohnende Zuhörer ergingen sich in Spekulationen über den Ort des Geschehens, durch die Halleffekte der engen Bebauung ein schwieriges Unterfangen. Man schaute die Damen, die aus dem vermuteten Gebäude kamen, dann auch immer, ob der eigenen Neugier peinlich berührt, verstohlen an: Konnte beispielsweise diese Endzwanzigerin mit den sinnlichen Lippen und der unvorteilhaften Hornbrille die Betreffende sein? Die unmittelbaren Nachbarn wussten natürlich genau, wo die Musik spielte, einmal hörte man den entnervten Ausruf „Braucht da jemand Hilfe“ – das war ja wohl eher unwahrscheinlich.
Die unfreiwilligen Lauscher waren zunächst verschämt und machten sich so ihre Gedanken über die eigene, weniger ekstatische Liebestätigkeit. Erinnerungen wurden wach: (Weißt Du noch, damals nachts auf der Terrasse der Ferienwohnung in Eutin? Und wie der Nachbar uns am nächsten Morgen angeglotzt hat!). Während der langen, heißen Sommerwochen trat aber eine gewisse Gewöhnung ein, man unterhielt sich immer unbefangener mit den Nachbarn: „Ach, die schon wieder!“
Der Mann, das unbekannte Wesen, erweckte Neugier. Anfangs blieb er stumm, aber im Laufe der Zeit ließ auch er sich hören, zwar sehr dezent und immer nur gegen Ende der Veranstaltung, aber sein Elan und sein Durchhaltevermögen erregten geheimes Erstaunen und eine gewisse neidvolle Bewunderung.
Einmal gab es ein – wenn auch schwaches – Echo. Da war ein anderes Pärchen offenbar animiert worden. Daraus könnte man natürlich eine Geschichte machen und die ganze nördliche Sanderau in Ekstase fallen lassen, aber dem war nicht so. Gegen Ende des Sommers nämlich flaute die Liebestätigkeit zumindest akustisch ab. Waren „die“ in Urlaub oder gar ausgezogen? Ein wenig vermissten die Anwohner das Phänomen, das sie so beschäftigt hatte. Ende der Liebestätigkeit?
II
Dorothee war außer sich vor Wut. Nicht nur hatte Luca, das Schwein (in ihrem Kopf schon ein feststehender Ausdruck, also Lucadasschwein), wegen „der Schlampe“ (Dorothee weigerte sich, deren Namen auch nur zur Kenntnis zu nehmen) die gemeinsame Wohnung verlassen. Und jetzt, Gipfel der Infamie, er hatte sich schräg gegenüber eingemietet, im dritten Stock (sie selbst wohnte im vierten), und da die Wohnungen um 90 Grad versetzt zueinander lagen, fiel ihr Blick zwangsläufig auf den Balkon von Lucademschwein. Das liederliche Paar hatte sogar die Impertinenz aufgebracht, Dorothee zuzuwinken. Der Balkon war ihr verleidet, auch weil sie ahnte, dass sie irgendwann nicht mehr an sich halten könnte und mit Blumentöpfen werfen würde.
An einem warmen Dienstagabend im Juli hatte sie dezent um die Ecke gelinst – richtig, die beiden aßen draußen, und der Groll, nicht auf ihren Balkon zu können, zerfraß sie. Zerstreut schaute sie ins Fernsehprogramm, fand nichts zu ihrer Stimmung passendes und wollte die Zeitung schon weglegen, da realisierte sie, dass im WDR um 22 Uhr wieder einmal „Harry und Sally“ gezeigt wurde. Sie hatte den netten Film schon mindestens dreimal gesehen, aber die Erinnerung brachte sie auf eine Idee. Sie riss die Fenster auf und begann, wie weiland Sally im Schnellimbiss, einen Orgasmus zu simulieren, laut und heftig. Dann aß sie zu Abend und machte das gleiche noch einmal. Sie wurde immer vergnügter und begann der Sache etwas abzugewinnen, besonders wenn sie an Lucadasschwein und seine Schlampe dachte. Denen würde sie einheizen. Also nutzte sie sowohl gelegentliche Schlaflosigkeit als auch freie Tage zu hemmungslosem Liebesgestöhne. Sie empfand nichts als eine Befriedigung ihrer Rachegefühle, und das an die Wand-Klopfen erboster Nachbarn oder die giftigen Blicke im Treppenhaus scherten sie überhaupt nicht, sie kalkulierte ausschließlich die Wirkung auf ihren Ex.
Eines Abends, als sie wieder einmal besonders engagiert tätig war, hörte sie ihren entnervten Nachbarn „Braucht da jemand Hilfe?“ rufen. Warum nicht, dachte sie und ging hinüber und klingelte. Er, ein stattlicher Mitdreißiger, öffnete mit hochrotem Kopf, und Dorothee legte ihren Finger Schweigen gebietend auf den Mund und winkte ihm, ihr zu folgen. Er betrat befangen ihre Wohnung und Dorothee nahm ihre Lustschreie wieder auf in der Hoffnung, er würde den männlichen Part übernehmen. Das tat er auch, aber anders, als sie es erwartet hatte. Offensichtlich erregt begann er sich zu entkleiden. Um so besser, schoss es ihr durch den Kopf, umso besser. Sie legte ihre schicke neue Hornbrille und einiges andere ab, hatte ihren Spaß und gewann die männliche Stimme hinzu, so konnte sie sich Lucademschwein noch intensiver in Erinnerung bringen.
Drei nicht nur akustisch intensive Wochen später kam sie zu ihrem Triumph. Zunächst hatte sie dem Kleintransporter vor dem Nachbarhaus keine Bedeutung beigemessen, aber als sie Luca mit verkniffenem Gesicht Umzugskartons schleppen sah, empfand sie tatsächlich ein orgiastisches Gefühl, blieb aber wohlweislich stumm.
Mit dem Nachbarn fand sie ein sympathisches Arrangement, nur dass sie bei ihren gelegentlichen Treffen wie alle anderen wieder leiser zu Werke gingen. Aber manchmal jauchzte sie in Erinnerung an ihr gelungenes Projekt noch auf.
Dorothee war sehr zufrieden!